kritik der woche
: Annäherung an das vermeintlich Böse: Geschichte eines Kindermörders

Er hat Mut und wagt etwas, der in Hannover tätige Journalist Heinrich Thies. 1998 verfolgte er in Oldenburg den Prozess gegen Ronny Rieken, der wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde – ohne Hoffnung auf eine mögliche Haftentlassung nach 15 Jahren Gefängnis. „Riekens Mangel an Mitgefühl und sein verfestigter Hang zu schweren aggressiven Taten (sind) durch eine Therapie nicht zu beheben“, sagte der Richter damals. Aber Thies verweigert die These vom nicht mehr resozialisierbaren Psychopathen, wendet sich gegen die Dämonisierung, gegen vorschnelle Schlüsse und reflexhaftes Denken.

Er will den Abgrund des Menschlichen ausleuchten. Und fragt: Was treibt einen Vater dreier Kinder dazu, wehrlose Mädchen zu missbrauchen, zu quälen und zu erdrosseln? Thies hat sich mit den Eltern der Opfer, Psycho- und Kriminologen, mit Riekens Familie unterhalten – und den Täter mehrmals in der Hochsicherheits-JVA Celle I getroffen.

Daraus resultiert das „Portrait eines Kindermörders“. Mit einer Mischung aus Originalaussagen und nüchtern beschaulicher Beschreibung vollzieht Thies die Taten, die Ermittlungen, den Prozess, das Leben im Gefängnis danach. Als „Annäherung an das vermeintlich Böse“.

Vermeintlich? Weil wohl das Böse als etwas allgemein Menschliches zu verstehen ist – Vorraussetzung: Ausleben verboten. Während also Menschen wie Du und ich auf Wald- und Forstwegen nicht über jeden herfallen, setzt Rieken seine „böse“ Triebenergie in Taten um. Ihm würden, so steht‘s im Buch, die „zivilisatorischen Schutzwälle der menschlichen Psyche“ fehlen. Warum? „Ein Wurzelgeflecht hat das Unfassbare hervorgebracht.“ Was Thies da ausgräbt? Eine Kindheit, geprägt von emotionaler Kälte und Gewalt, eine Familie, die selbst sexuellen Missbrauch unter den Teppich der Verschwiegenheit kehrt. Außerdem: Alkohol, Binnenschifferromantik, Arbeitslosigkeit, eine Ehefrau als Freundin, nicht als Geliebte – und eine penibel geputzte Feuerzeugsammlung. Nicht zu vergessen Thies‘ Hinweise, Rieken habe seinen Penis als „klein“ empfunden, unter sexuellen Versagensängsten gelitten. So wagemutig der Autor loslegt, so scheu verharrt er auf gerichtspsychologischen Klischees. Sie werden nicht hinterfragt, sondern suggerieren: nicht Rieken, die Vorgeschichte hat Schuld.

In einem Zitat lässt Thies den Täter von einem „Programm“ erzählen, das bei den Vergewaltigungen abgelaufen sei, also etwas, das einen überwältigt. Seiten später, wenn „das Programm“ dann „erneut Besitz von ihm“ ergreift, ist die Aussage nicht mehr als Zitat kenntlich oder durch den Konjunktiv abgesichert, sondern eine Feststellung des Autors. Er übernimmt also die Darstellungen des Kindermörders – und übersetzt Riekens Vergewaltigungs-„Programm“ schließlich mit „Begegnungen, die das Tier in ihm weckten“, dass die „Begierde entflammt“. Auch sieht Thies „Krallen der inneren Plagegeister“ und Erinnerungen „wie Rachegöttinnen“ am Werk. Das Buch verweigert hier die Trennung von sorgfältig recherchiertem Fakt und Vermutung, von Journalismus, kommentierender Erzählung und literarischer Armut. Jens Fischer

Heinrich Thies: Ronny Rieken. Porträt eines Kindermörders, zu Klampen Verlag, 14 Euro