: Der Show-Prozess
AUS FRANKFURT/MAIN HEIDE PLATEN
Der Zuhörerbereich im Saal 165 C des Frankfurter Landgerichts ist dunkel und drangvoll eng gefüllt, die Trennscheibe verhindert die Frischluftzufuhr, es ist heiß und stickig, fast wie in einem Fernsehstudio. Genug Kameras sind jedenfalls da. Das Publikum scheint das gewohnt zu sein. Da sind die Fans gekommen, die gewohnheitsmäßigen Talkshow-Teilnehmer jener Billigproduktionen der privaten Sender, bei denen es darauf ankommt, sich besonders schlecht zu benehmen. Sie sind stolz, die Auserwählten bei den Castings gewesen zu sein und erzählen sich in den Verhandlungspausen gerne, wo überall sie schon aufgetreten sind: „Beim Pilawa war ich, bei der Vera, beim Türck zweimal!“ Das schafft Verbundenheit mit dem Angeklagten Andreas Türck (36), der sich bis 2002 bei Pro 7 so bewegenden Themen widmete wie „Deine Freundin ist zu alt! Was willst du von der Mumie?“ „Süß ist er“, sagen junge und alte Frauen, schwenken sein Foto und malen sich Grüße auf die T-Shirts: „Kopf hoch, wir halten zu dir!“ Der „Süße“ ist der Vergewaltigung in besonders schwerem Fall angeklagt. Er macht von seinem Schweigerecht Gebrauch und sagte zu Beginn der Verhandlung nur: „Ich lege wert auf die Feststellung, dass ich unschuldig bin.“
Es wird keine Gewinner geben im Saal 165 C des Frankfurter Landgerichts, das Urteil wird eine Glaubensfrage bleiben. Ein Freispruch wird Zweifel lassen, eine Verurteilung ebenso. Das Verfahren ist von der ersten Stunde an eine Quälerei für alle Beteiligten, so unappetitlich wie eine Schmuddel-Talkshow eben. Dem Publikum allerdings blieb der Lernprozess nicht erspart, dass es im wahren Leben doch ein wenig anders zugeht als in den Soap-Gerichtssälen von Salesch bis Hold. Immer wieder Pausen, lange Beratungen – Unterbrechungen zur Urteilsfindung statt zu Werbezwecken – animierten zu Buh- und Bährufen. Die Vorsitzende der 27. Strafkammer, Bärbel Stock, quittierte die Unmutskundgebungen mehrmals mit der Drohung, den Saal räumen zu lassen und verbot den Applaus für die Verteidigung: „Das ist hier eine Hauptverhandlung und kein Kino!“
Auf der einen Seite des Gerichtssaales sitzt Türck neben seinen versierten Verteidigern Susanne Wagner und Rüdiger Weidhaus. Sie gingen sofort zum Angriff gegen Gericht und Staatsanwaltschaft über, weil schlampig und einseitig nur zu Lasten ihres Mandanten ermittelt worden sei. Sie zitierten aus Telefonüberwachungsprotokollen und zielten damit auf die 29-jährige Bankkauffrau Katharina B., Opfer, Zeugin und Nebenklägerin zugleich. Aus Ausschnitten abgehörter Telefonate rekonstruierten sie das Bild einer labilen, drogenabhängigen, durch und durch unglaubwürdigen Frau mit zweifelhaftem Lebenswandel. Wie sie in den Besitz der aus einem anderen Verfahren gewonnenen Protokolle gekommen sind, bleibt ungeklärt. Strafprozessual dürfen sie nicht verwertet werden und gelten damit als nicht vorhanden. Möglicherweise, vermutet die Nebenklage, sind sie der Verteidigung von einem der damals Observierten zugespielt worden. Katharina B. ließ den Medienansturm mit abgewandtem Kopf über sich ergehen. Sie hätte nicht dort sitzen müssen, verkrampft, blass. Sie hätte die Verhandlungsführung ihrer Nebenklagevertreterin, Rechtsanwältin Friederike Vilmar, überlassen können. Katharina B. wählte den schweren Weg.
Die Anklage wirft Türck vor, sie in der Nacht des 25. August 2002 zum Oralsex gezwungen zu haben. Der Tatort, die Honsell-Brücke im Frankfurter Ostend, ist ein trister Ort. Sie ist einsam, führt über das Becken des Osthafens zwischen Industrie- und Gewerbebetrieben. Türck traf Katharina B. und deren Freundin Marisa Z. in einer der derzeitigen Frankfurter In-Bars an der nahe liegenden Hanauer Landstraße. Das „Sansibar“ auf der Dachterrasse einer alten Brauerei ist Treffpunkt der kleinen und größeren Nachtlichter am Main. Dort gilt einer wie Türck als prominent. Der Kontakt zu ihm sei, so sagen alle Zeugen übereinstimmend, über Ralph S. entstanden, der zusammen mit Türck unterwegs war. Man habe sich unterhalten, geflachst, etwas getrunken und dann beschlossen, zu viert eine Nachtbar in der Nähe aufzusuchen. So weit, so banal. Türck allerdings fuhr an der Bar vorbei, bog auf die Honsell-Brücke ein und parkte dort am Straßenrand. Sein Freund sagte im Zeugenstand aus, man habe von dort aus den besonders guten Blick auf die erleuchtete Skyline der Stadt betrachten wollen. Türck habe das beeindruckende Panorama schon zuvor fotografiert. Dass von Skyline-Blick die Rede war, bestätigen auch Katharina B. und ihre Freundin. Dann jedoch gehen die Schilderungen weit auseinander. Ralph S. erinnert sich, dass das spätere Opfer zuerst ihn geküsst habe, ganz einvernehmlich auf dem Rücksitz des Autos. Die Freundin hat nichts gesehen, aber ein „Geruckel“ hinter sich bemerkt. Auf der Brücke, so Ralph S., sei Katharina B. dann für ihn „überraschend“ mit Türck zur Brückenmitte gegangen. Dann habe er gesehen, dass sie vor ihm kniete und sich darüber „sehr gewundert“. Auch Marisa Z. wundert sich. Sie habe aber, sagt sie, nicht genau erkennen können, was da vor sich gegangen sei.
Katharina B. schildert aus ihrer Sicht, erst stockend, dann sicherer, überzeugt von ihrer eigenen Wahrheit. Sie habe auf dem Rücksitz versucht, die Annäherungsversuche des Ralph S. abzuwehren, der dann auch Ruhe gegeben habe. Als das Auto hielt, habe sie „ein ungutes Gefühl“ gehabt, sei verwundert gewesen, dass es nicht vor der Bar parkte und schnell ausgestiegen, um sich von S. erst einmal zu entfernen. Türck habe sie dann aufgefordert, mit ihm zu kommen. Auf der Brücke habe er den Arm um ihre Schulter gelegt. Sie habe zuerst vermutet, er wolle sie wegen der Zudringlichkeit von S. trösten, habe sich aber auch aus der neuerlichen Umarmung herauswinden wollen. Da habe er sie gepackt, am Hals gewürgt, auf den Boden gedrückt, dabei sei ihr Kopf an einen Brückenpfeiler geschlagen. Sie habe nach Luft geschnappt, sei benommen gewesen, fast bewusstlos, vor Angst und Panik „wie gelähmt“, habe nicht schreien oder sich wehren können. Sie sei „geschockt“ gewesen und habe nicht mehr richtig mitbekommen, was danach geschah.
Warum sie noch einmal in das Auto gestiegen ist, kann sie nicht erklären. Die beiden Frauen werden von den Männern kurz danach an einer Tankstelle abgesetzt. Dort, so die Freundin, sagt Katharina B. ihr, dass sie vergewaltigt worden sei. Sie sackt zusammen, weint, zittert, übergibt sich. Anzeige will sie trotz des Drängens mehrerer Bekannter nicht erstatten. Sie habe das alles lieber „verdrängen“ und weiterleben wollen, „als sei nichts gewesen“. Das Ertragen, Erdulden, Wegschieben, sagt sie, entspreche ihrer Persönlichkeit.
Und dabei wäre es auch geblieben, hätte nicht zeitgleich die Polizei eine Telefonüberwachung bei Freunden von Katharina B. wegen Verdachts des Rauschgifthandels durchgeführt. Sie hört mit, als Katharina B. mit ihnen telefoniert und von der Vergewaltigung erzählt, unternimmt aber monatelang nichts, um ihre Ermittlungen nicht zu gefährden. Erst im Januar 2003 wird sie tätig. Polizeibeamte kommen zu ihrem Arbeitsplatz und fordern sie zu einer Anzeige auf. Ihr ist das peinlich, sie will nicht, verweigert sich tagelang. Die Beamten machen Druck, bis sie nachgibt, sich halbherzig einer psychologischen Begutachtung unterzieht. Sie habe, sagt sie im Zeugenstand, den Beamten geglaubt, dass sie aussagen „muss“, dass sie gesetzlich dazu verpflichtet sei.
Katharina B. schenkt sich auch im Gerichtssaal nichts. Sie zeichnet von sich selbst das Bild einer Ich-schwachen Frau mit problematischer Kindheit, einem Selbstmordversuch als Teenager, schweren Essstörungen und falschen Freundschaften. Nach der Tat habe sie zwischen aufgesetzter Hochstimmung und Depression gelebt. Mittlerweile versuche sie, dies alles in einer Langzeittherapie aufzuarbeiten. Und sie widerspricht dem von der Verteidigung gezeichneten Bild vehement. Sie sei nie drogensüchtig gewesen, habe auch kein Kokain gekauft, sondern nur auf Partys gelegentlich eine Einladung zum Koksen angenommen. Sie habe immer regelmäßig in ihrem Beruf als Bankkauffrau gearbeitet, sich nie sinnlos betrunken oder exzessiv Tabletten konsumiert. Nie habe sie bei einem Begleitservice gearbeitet, sondern sei nur einmal auf Bitten eines Freundes bei einem Essen dabeigesessen.
Richterin Stock fragt einfühlsam und leise, aber dennoch unnachgiebig. Dazu ist sie wegen der Aussagen des Freundes von Türck gezwungen, der von aggressiver Anmache der beiden jungen Frauen berichtete, von obszönen Sprüchen auch nach dem Oralverkehr. Ob Katharina B. Unterwäsche getragen, sich halbnackt präsentiert habe, ob sie vor ihrer Freundin mit dem Geschlechtsakt geprahlt habe? Katharina B. verneint das. Es geht, da sonstige Beweise und eindeutige Zeugenaussagen fehlen, in diesem Verfahren vor allem um ihre Glaubwürdigkeit. Das macht sie zu einer Nebenklägerin, die sich sezieren lassen und dadurch beweisen muss, dass ihre – eher unfreiwilligen – Aussagen der Wahrheit entsprechen. Die einstigen, teils abgeurteilten Freunde aus der Drogenszene lassen im Zeugenstand kein gutes Haar an Katharina B. Einer schrieb aus dem Gefängnis, er wolle Türck helfen. Richterin Stock bekommt keine Antwort auf ihre Frage, ob dafür „Geld geflossen“ sei. Andere Bekannte berichten dagegen , dass sie am Tag nach der Tat bei Katharina B. Verletzungsspuren gesehen hätten, eine Beule am Kopf, Würgemale am Hals und Schürfwunden am Rücken. Entscheidende Bedeutung werden die drei vom Gericht bestellten psychologischen und medizinischen Gutachten haben.
Am vierten Verhandlungstag sagte die Kriminalbeamtin Kerstin S. als Zeugin aus. Sie hatte Katharina B. erst vernehmen können, nachdem die Telefonüberwachung abgeschlossen und klar war, dass sie an den Drogengeschäften ihrer Bekannten nicht beteiligt war. Sie hält sie für glaubwürdig. Sie habe „nicht übertrieben, eher im Gegenteil“: „Sie machte sich selbst Vorwürfe.“ Kerstin S. sagt auch aus, dass ihr die Aussagen der Gegenseite „abgesprochen“ vorkamen. Sie hatte auch Ralph S. und Andreas Türck vernommen, der den Oralsex auf der Brücke in der polizeilichen Vernehmung zugab, aber Gewalt bestritt. Die Initiative sei von Katharina B. ausgegangen. Er habe das nicht nur als angenehm empfunden und Sorge gehabt, das jemand vorbeikomme, weil er seine rutschende Hose habe festhalten müssen, während die Frau ihn „ruck, zuck“ befriedigte. Er bliebe, von Pro 7 entlassen, nach einer Verurteilung auf absehbare Zeit arbeitslos. Mit einem Urteil wird Anfang September gerechnet.