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Archiv-Artikel

Der Himmel über der Wüste

WÜSTENROCK Ihr aktuelles Album „Algiers“ haben die Tucson-Desert-Rocker Calexico nach dem Stadtteil New Orleans’ benannt, in dem sie es aufgenommen haben. Frisch und ausgeruht klingt es. Treu geblieben sind sich die US-Amerikaner aber trotz des Ortswechsels

Hier handelt es sich nicht um ruhelosen Zeitgeistern unterworfene Ideenmusik

VON MICHAEL SAAGER

Manchmal, aber nur manchmal, wünscht man Joey Burns eine weniger zärtliche, eine dunklere, vor allem deutlich voluminösere Stimme. Eine Waldstimme, geschlagen aus felsigem Grund. Etwas in dieser Art. Dann könnten sogar die muskulöseren Songs von Calexico halten, was sie versprechen – so selten sie auch sein mögen.

„Sinner in the Sea“ vom neuen Album „Algiers“, ein durch dominante Orgelsounds und kräftige Bläser ungewöhnlich dicht gestelltes Stück mit hochdramatischen, rockigen Passagen, hätte dann ein adäquates Gesangspendant. Hätte. Weil dieses Pendant fehlt, bleibt das Drama Behauptung. Burns tut einem fast ein bisschen leid: Warum quält er sich so, der Arme?

Gerettet wird der Song durch seinen Text: Das Klavier, das auf dem Meeresboden Tango spielt, ist ein starkes Bild für den Wunsch vieler Kubaner, das Land zu verlassen. „There’s a piano playing on the ocean floor between Havana and New Orleans / Drummin’ a requiem for the dead and the souls hanging on every poet‘s prayer“.

Gitarrist Burns, der es sich auch auf „Algiers“ nicht nehmen lässt, dann und wann, nach Americana-Art, Steelgitarre zu spielen, und der besenverliebte Drummer John Convertino haben ihr sechstes Studioalbum nicht in ihrer Heimat Arizona, sondern in New Orleans aufgenommen, im Stadtteil Algiers, daher der Name dieser insgesamt sehr gelungenen Arbeit. Ein Ortswechsel sei wichtig für ihre Kreativität gewesen. „Nachdem wir angefangen hatten, die Platte in Tucson aufzunehmen, haben wir gemerkt, dass wir weg müssen von der täglichen Routine unserer Heimatstadt“, erzählte Convertino in einem Radiointerview.

Tatsächlich klingt „Algiers“ frisch und ausgeruht. Von Grund auf überholt? Vielleicht. Viele der melancholischen Sehnsuchtsmelodien verfangen nachhaltig; die Gitarrenriffs haben das gewisse Etwas; entspannte Laid-Back-Grooves wechseln sich songweise ab mit flotteren Tempi; die Gesamtdramaturgie des Albums ist überaus schlüssig. Den „Trick“ mit dem ersten Song, der das Eis brechen soll und die Erwartungen in die gewünschten Richtungen zu lenken hat, diesen Trick beherrschen sie selbstverständlich auch.

Der Opener „Epic“ ist ein gleichermaßen dichtgefugtes wie spielerisch locker dargebotenes Wunderwerk, wahrscheinlich einer der besten Songs, die Burns geschrieben hat. In seiner grandiosen seelischen Tiefenwirkung Iron and Wines „Walking Far From Home“ vergleichbar, bündelt „Epic“ nahezu alles, was man an Calexico aus guten Gründen zu schätzen weiß. Mariachi-Folk, Südstaaten-Country, Spuren von Jazz und Gospel sind zu hören, und nicht zuletzt ist die spirituell anmutende Ruhe vor dem Sturm zu spüren, die eine Post-Rock-Band wie The For Carnation so trefflich zu inszenieren wusste.

Calexico sind sich treu geblieben, was nichts macht, da es sich bei ihren Songs nicht um ruhelosen Zeitgeistern unterworfene Ideenmusik handelt. Hier geht es darum, die bekannte Formel zu perfektionieren, zwingende Songs zu schreiben, große Melodien.

Und ja, wenn sich zu Burns‘ leicht brüchigem Beinahe-Flüstergesang eine traumverlorene Frauenstimme gesellt, folkloristisch anmutende Mariachi-Bläser den mittleren Grund ausstaffieren und Streicher den Himmel über der Wüste üppig-dekorativ bemalen, dann freut sich insbesondere der eingefleischte Calexico-Fan.

Abermals singt Burns von Menschen, die an Staatsgrenzen leben, an der amerikanisch-mexikanischen zum Beispiel. Von ihrem Alltag, ihren Träumen und nicht nachlassenden Fluchtgedanken erzählt er uns. Man könnte fragen: Welche US-amerikanische Popband tut das noch? Und mit so viel Feingefühl? Gut, dass Burns diese und keine andere Stimme hat.

■ Di, 25. 9., 20 Uhr, Große Freiheit 36, ebenda