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Archiv-Artikel

Angefixt vom Vibe der Stadt

MUSIKSZENE Ist Berlin am Ende? Nein, noch lange nicht. Es gibt weiterhin viele Orte, wo experimentelle Musik gespielt wird, die nach purem Baustellenlärm klingt

Der Sound Berlins

■ Platten bei „Lird Records“: lirdrecords.tumblr.com, www.facebook.com/LirdRecords.

■ Klubs & Co.: Institut für Krimskrams im Antje Öklesund: www.antjeoeklesund.de, Bei Roy: www.beiroy.de, Madame Claude: madameclaude.de.

■ Blogs & Co.: Blitzgigs: www. blitzgigs.de, Berlinbeat: www.berlinbeat.org, No Fear of Pop: nofearofpop.net. Partyreihe „Nordic by Nature“: www.nbnberlin.de

VON LUKAS DUBBRO

Es herrscht Katerstimmung in den Berliner Szenebezirken. Statt wie früher die Idee des guten Lebens zu proklamieren, wettert die einstige Avantgarde in Prenzlauer Berg, Mitte, Kreuzberg und Friedrichshain über steigende Mieten, Touris, Schwaben, Familien und Hipster.

Gleichzeitig haben dort in den letzten Monaten tatsächlich einige legendäre subkulturelle Institutionen dichtgemacht, unter ihnen das Kunsthaus „Tacheles“, der Drum-’n’-Bass-Klub „Icon“ und der Kulturraum „HBC“. Andere wie der Schokoladen und der Rote Salon haben Zoff mit ihren Nachbarn, die sofort die Polizei rufen, wenn nach zehn Uhr noch laut Musik gespielt wird, oder zittern wie das Berghain vor der Gema-Tarifreform.

Kulturpessimisten haben es angesichts der angespannten Lage nicht schwer, den Untergang der alternativen Musikkultur Berlins zu proklamieren. Doch geht Berlin tatsächlich den Bach runter? Und: Wie sehen eigentlich junge Menschen, die in Berlin Musik machen, die Entwicklung der Stadt?

„Berlin ist ein guter Ort für Musik“, sagt Nadine Finsterbusch, Namensgeberin und Sängerin der Indiepop-Band „Nadine and the Prussians“. Wie sehr sich Berlin noch immer für musikalische Unternehmungen eignet, zeigt ihre Band. Gegründet hat Finsterbusch The Prussians mit ihrem alten Schulfreund Bruno Bauch 2007 in Dortmund. Richtig Schwung bekam das Projekt jedoch erst in Berlin, weil sie hier die richtigen Leute kennenlernten: So waren es keine Geringeren als Türen-Bassist Ramin Bijan und Whitest-Boy-Alive-Produzent Norman Nitzsche, mit denen das Duo im Februar seine EP aufgenommen hat. „Es leben so viele tolle Menschen in der Stadt“, sagt Finsterbusch.

Ähnlich positiv wie Finsterbusch sieht der Brite Sam Archie Aston die Berliner Musikszene. Die deutsche Hauptstadt sei noch immer eine der „most happening cities in the world“, sagt er. Gemeinsam mit seiner Freundin Claudia Bell eröffnete er Anfang des Jahres die Plattenboutique „Lird Records“, weil er sich angefixt fühlte vom Vibe der Stadt. Dort verkauft er auch Kassetten von Bands aus Berlin. Wie Aston sagt, sei es ein Vergnügen für ihn in einer Stadt zu leben, in der so viel nebeneinander existiere, jeder sein Ding mache. „In Berlin ist es so einfach, Input zu bekommen oder mit anderen zusammenzuarbeiten“, sagt Aston.

Ein wichtiger Gradmesser für den Zustand einer Subkultur ist ebenfalls das Vorhandensein alternativer Veranstaltungsräume – davon besitzt Berlin immer noch ziemlich viele. Die zurzeit wichtigsten sind das Westgermany, das Antje Öklesund, das Bei Roy und das Madame Claude. Dort läuft Musik, die sonst keiner haben will, weil sie zu experimentell ist.

Im Keller der Bar Madame Claude in Kreuzberg kann es passieren, dass sich das Publikum die Trommelfelle von Musik massieren lässt, die zunächst nach nichts anderem als purem Baustellenlärm klingt. Das Madame Claude hat sich seit seiner Eröffnung 2008 zu einem wichtigen Treffpunkt für experimentelle Musik entwickelt. Die BetreiberInnen der Bar sind glücklich in Berlin: „Wir fühlen uns hier am richtigen Platz“, sagt Mitbetreiber Julien Bouille. Der französische Konzertveranstalter meint, dass Berlin noch lange nicht am Ende sei.

Doch hat die aufstrebende Berliner Alternativszene nicht nur aufregende Locations und Bands zu bieten, sondern auch wichtige Strukturen wie Blogs. Da wäre der unabhängige und immer gut informierte Ausgehplan „Blitzgigs“, der Interview-Blog „Berlinbeat“ und der Musikblog „No Fear of Pop“. Die Köpfe hinter „No Fear of Pop“ sind Henning Lahmann und Tonje Thilesen. Auf ihrem Blog gibt es Musik, die mit dem MP3-Player in einem irgendeinem Schlafzimmer des globalen Dorfes aufgenommen wurde. Die beiden haben ein Faible für kleine, unbekannte Bands. Genau jene versuchen sie auch in Berlin zu pushen. Regelmäßig veranstalten sie gemeinsam mit den Partyreihen „Nordic by Nature“ oder „Noisekölln“ Konzerte in Neukölln, Kreuzberg und Friedrichshain.

Lahmann ist davon überzeugt, dass Berlin noch immer eine sehr gute Stadt für Musik sei, weil sie die Voraussetzungen biete, eine sein zu können – mit künstlerfreundlichen Lebenshaltungskosten, einer einzigartigen Klubszene und noch genügend Freiräumen. „Nur ein wenig mehr Mut und eine ästhetische Vision, die auf die Reproduktion von Technoklängen der frühen Neunziger hinausgeht, das hätte die Stadt dringend nötig“, sagt der Musikjournalist.