: Die Stadt, die nicht mehr kann
BANKROTT Als die Gemeinderäte vor Schulden nicht weiterwussten, fragten sie Lehman Brothers um Rat. Nun ist Stockton die größte Pleitestadt der USA. Und spürt die Finanzkrise bis ins Baseballstadion
■ Die Papiere: Wenn eine Stadt in den USA beschließt, ein neues Rathaus oder Stadion zu bauen, erhält sie das Geld dafür meist, indem sie Städteanleihen auf den Markt bringt. Im Namen der Stadt geben Wall-Street-Banken Papiere heraus. Sie sammeln also bei Investoren Geld für die Bauvorhaben.
■ Der Betrug: Weil die Städte das gesammelte Geld für ein neues Rathaus nicht auf einmal ausgeben, sondern die Baufirmen oder Architekten nach und nach bezahlen, legen sie die Summe erst einmal an. Um den Kommunen dabei den höchsten Zinssatz zu sichern, geschieht das in Auktionen. Dutzende Banken haben jahrelang Auktionatoren geschmiert, um sich abzusprechen und den Städten niedrige Zinsen anzudrehen. Die Differenz zum marktüblichen Zins strichen die Banker ein.
■ Der Schaden: Da der Markt für Städteanleihen 3,7 Billionen Dollar umfasst, gehen die Verluste in die Milliarden. Vier Banken zahlten 673 Millionen Dollar Entschädigung. Sie sind lange nicht die Einzigen, die manipulierten.
AUS STOCKTON JOHANNES GERNERT
Die Leute in Stockton sagen, dass es mehrere Ursachen für die Pleite ihrer Stadt gibt und dass Dwane Milnes eine davon ist.
Dwane Milnes ist 67 Jahre alt, er lebt in einer dieser amerikanischen Straßen, deren Häuser sich vor allem im Ton des Graus unterscheiden, mit dem die Holzfassaden gestrichen sind, und im Namen der Alarmanlagenfirma, der auf dem Warnschild im Vorgarten steht. Wenn Dwane Milnes in seinem weinroten Sessel sitzt, kann er draußen die Blumen blühen sehen.
Von 1991 bis 2001 war Dwane Milnes Verwaltungschef der kalifornischen Stadt Stockton. Stockton hat mehr als 290.000 Einwohner. Und mehr als 700 Millionen Dollar Schulden, wenn man alles zusammenrechnet. Am 28. Juni hat die Stadt Insolvenz angemeldet. Ein Gericht muss jetzt entscheiden, ob sie endgültig pleitegehen darf. Die Ratingagentur Moody’s stufte Anleihen von Stockton auf Caa3 herunter, zwei Stufen über Griechenland, eine unter Ecuador. Damit ist Stockton eine Stadt mit Ramschstatus. Die größte Ramschstadt der USA.
In Stockton kann man einiges darüber lernen, wie die größte Finanzkrise der vergangenen Jahrzehnte zustande gekommen ist. Und wie ihre Folgen heute in den Alltag hineinschwappen.
Wenn man nach dem sucht, was die Menschen damals geleitet hat, muss man wohl sagen: Es ist auch der Optimismus gewesen, der Stockton ruiniert hat.
Stocktons Stadträtinnen und Manager haben so sehr und so lange an eine bessere Zukunft geglaubt, an die unbegrenzten Möglichkeiten der Finanzmärkte, dass sie immer noch mehr Schulden aufnahmen und am Ende, kurz vor dem Crash, sogar auf die Berater einer Bank vertrauten, die heute für diesen Kollaps steht: Lehman Brothers.
Es ist derselbe Optimismus, der Kreditkartenrechnungen in den USA so lang macht, weil die Leute zuversichtlich sind, dass das Geld, das sie ausgeben, einmal da sein wird. Es ist der Optimismus, der vielen Hausbesitzern ein gutes Gefühl verliehen hat, als ihre Schulden schon hoch wie Lottogewinne waren. Bis die Blase platzte. Und auch Stockton anfangen musste, ehrlicher mit sich selbst zu werden.
Es war auch einmal der Optimismus von Dwane Milnes.
Stockton liegt in einem Tal, in dem die Bauern Baumwolle, Trauben oder Pfirsiche ernten. Nicht weit entfernt, im Silicon Valley, verdienen Millionäre und Milliardäre mit Technik ihre Vermögen. Aber in diesem Sommer hat es Stockton nicht mehr geschafft, ein ausgeglichenes Budget vorzulegen, wie es das Gesetz verlangt. Noch zwei kalifornische Städte haben Insolvenz angemeldet, dutzende, auch anderswo, stehen kurz davor.
Die Verantwortlichen in Stockton kürzen seit 2010, wo man kürzen kann. Bei Parks, Büchereien, Schwimmbädern. Polizisten, Feuerwehrleuten. Allen Angestellten der Stadt wurden nach dem Tag der Insolvenz die Gehälter beschnitten, die Gesundheitsversorgung, die Rente. Es gibt nur drei Parteien, die sich verweigern. Die Finanzfirmen, die Stocktons Kredite versichert haben und jetzt für die Ausfälle zahlen müssten, die Polizeigewerkschaft – und Dwane Milnes.
Ein Kolumnist nennt Milnes eine „Finanzplage“
Dwane Milnes sitzt in seinem weinroten Wohnzimmersessel und sagt, dass er erklären kann, was damals passiert ist. Alles.
Milnes führt die pensionierten Stadtangestellten von Stockton an. Er verteidigt Krankenkassenzuschüsse, die er sich und anderen gewährt hat, als er in den Neunzigern für die Stadtfinanzen zuständig war. Kosten, die den Schuldenkrater von Stockton immer größer machen.
Der Kolumnist der Stocktoner Lokalzeitung hat Milnes kürzlich eine „Finanzplage“ genannt. Dabei steht Milnes nur für die Mentalität, mit der Geldfragen in dieser Zeit gelöst wurden.
Sein Job in Stockton hieß City Manager, ein Stadtkämmerer oder Verwaltungsdirektor, der mit Bürgermeistern und Stadträtinnen regiert. Milnes redet so trocken wie einer, zu dem das Wort Verwaltungsdirektor gut passt. Ganz selten, wenn ihm einer seiner Witze besonders gefällt, stößt er kurze, hohe Lacher heraus, als wäre ein Papagei im Raum. Dann sinkt seine Stimme wieder in die Seriosität hinab.
Als Milnes 1991 City Manager von Stockton wird, hat er zwei Probleme. Das Leben in der Stadt ist gefährlich. Und die Polizisten wollen mehr Geld.
Milnes hat Verwaltungswissenschaften studiert und vorher das ruhigere Städtchen Merced gemanagt. Stockton ist ärmer als andere Orte, seine Mordrate ist viel höher. Milnes liest Studien, wie Städte friedlicher wurden. Man braucht Sozialarbeiter. Man braucht Polizisten.
Die Leute in Stockton mögen ihre Polizei. Es stört in den Neunzigern niemanden, dass die Polizeigewerkschaft ordentliche Lohnerhöhungen aushandelt. Auch nicht, dass Polizisten mit 50 mit fast vollem Gehalt in Rente gehen dürfen. Soll ein 50-Jähriger noch über Zäune klettern?
Dwane Milnes einigt sich mit der Gewerkschaft. Der Tarifvertrag ist teuer, aber er bringt Ruhe.
Der City Manager setzt so die ersten Spatenstiche für den Krater, in dem Stockton versinken wird. Milnes ist zuversichtlich.
Er will sich um das Baseballteam kümmern, die Stockton Ports. Man braucht ein neues Stadion, dazu am besten eine Arena für die anderen Teams der Stadt, für Konzerte vielleicht auch. Dann würden sich Sportkneipen ansiedeln, Restaurants. Je mehr Leben in der Innenstadt, desto weniger Gewalt. Stockton würde es einmal besser haben. Und um die paar Millionen dafür zusammenzubekommen, könnte man Stadtanleihen herausgeben, so wie andere Kommunen. Wie ein Unternehmen, das Aktien an die Börse bringt, würde Stockton Anleihen verkaufen. Anleihen klingt nicht nach Schulden.
Stockton kauft Gebäude, lässt Baugruben ausheben, auch nachdem sich Dwane Milnes 2001 pensionieren hat lassen. Der Schuldenkrater wird größer.
Doch auch die Einnahmen aus der Eigentumssteuer steigen. Mit dem Beginn des neuen Millenniums wächst die Zuversicht. Die Leute öffnen Geschäfte, bauen und kaufen Häuser.
Investmentbanker beginnen in dieser Zeit, die Hypotheken zu verstecken. Sie erfinden neue Papiere, um die genaue Herkunft der Schulden zu verschleiern. Sie werden in unterschiedlichen Paketen zerstückelt und mit komplizierten Namen versehen. So wird auf den Märkten fast unsichtbar, wie wenig Geld viele Schuldner haben. Dass viele ihre Kredite nicht zurückzahlen werden können, selbst wenn sie neben den Jobs als Putzfrau und Nachtwächterin noch einen dritten annähmen.
Neue Hausbesitzer bekommen ohne Schwierigkeiten Kredite, das macht sie noch optimistischer. Manchmal garantierte die Hypothek auf ein unbezahltes Haus für ein neues. Die Steuereinnahmen der Stadt wachsen.
Milnes’ Nachfolger heißt Mark Lewis. Als er 2005 die neue Arena eröffnet, sagt er, dass Stockton nun einen Diamanten habe, der Besucher anziehe. „Stockton wird nie wieder dasselbe sein.“
Heute weht neben dem neuen Stadion der Wind über eine staubige Baubrache. Kein Restaurant, keine Bar. Nur ein riesiges Plakat, das Werbung für ein Spielcasino macht. Kinobesucher können abends nicht länger gratis im Zentrum parken, drei Parkgaragen der Stadt wurden von einer Bank beschlagnahmt, weil Stockton die Raten nicht mehr zahlen konnte. Beschlagnahmt wurde auch ein pyramidenförmiges Hochhaus mit verdunkelten Scheiben. Es war geplant, dass es einmal das neue Rathaus wird, größer als das bisherige. Die Millionen, damals ausgegeben, sollten Kosten sparen, irgendwann.
Am 31. August 2006 blickt der Stadtrat von Stockton in den Krater seines Haushalts. 152,21 Millionen Dollar Schulden allein für nicht bezahlte Rentenbeiträge.
Neben den Stadträten, neben dem Bürgermeister und dem City Manager stehen an diesem Vormittag im August 2006 zwei Berater der Investmentbank Lehman Brothers. Sie sagen, dass Stockton die Schulden erst einmal nicht bezahlen muss. Es gäbe da eine andere Möglichkeit.
Mit der Powerpoint-Präsentation in Waldgrün und Orange, die die junge Bankerin und ihr Kollege in den Rathaussaal projizieren, schlagen sie eines von diesen Schuldenverlagerungsgeschäften vor, die die Finanzkrise ausgelöst haben.
Man könne den Schuldenkrater zuschütten, indem man ein neues Loch grabe und die Erde hinübertrage, sagen die Lehman-Leute. Man müsse nur Rentenanleihen herausgeben. Für dieselbe Summe, die Stockton dem Rentensystem schuldet, weil es mit den Zahlungen nicht hinterherkommt, solle es Anleihen herausgeben – also neue Schulden aufnehmen. Für die neuen Schulden müssten weniger Zinsen gezahlt werden als für die alten. Die Differenz könne sich die Stadt als Gewinne verbuchen, um sich eines Tages ins Plus zu befördern. Die Alternative sei, die Schulden abzubezahlen. Aber es seien sehr viele Schulden.
Noch einmal entscheidet sich Stockton für den Optimismus.
Als der Markt zusammenbricht, muss die Stadt plötzlich auch für die neu herausgegebenen Fonds mehr Zinsen zahlen.
DWANE MILNES, EHEMALIGER VERWALTUNGSCHEF VON STOCKTON
Bei Autodiebstahl ermittelt die Polizei gar nicht mehr
Eine Lehman-Beraterin von damals arbeitet jetzt bei der Bank Barclays. Auf die Mail mit der Frage, wie sie ihren Rat heute einschätzt, antwortet sie nicht. Der Wirtschaftsprofessor Jeffrey Michael nennt ihre Präsentation von damals „deceptive“. Irreführend. Oder: betrügerisch.
2008, als die Finanzkrise Stocktons Schulden immer weiter anwachsen lässt, fängt der neue Polizeichef an. Er bleibt acht Monate. Als man ihm wegen der Krise das Gehalt kürzen will, setzt er sich zur Ruhe und nimmt lieber die 204.000 Dollar jährlich. Sein Nachfolger hat auch schon wieder aufgehört. Er bekommt 193.417 Dollar Rente.
„In den Neunzigern waren Feuerwehrleute und Polizisten unglaublich hoch angesehen. Man zahlte dem Polizisten wesentlich mehr als dem Typen, der den Rasen im Stadtpark mähte“, sagt Dwane Milnes, „auch wenn beide dasselbe Ausbildungsniveau hatten.“
Wenn Kathryn Nance auf Keilabsätzen in den Starbucks im Stocktoner Zentrum hineinschwingt, in knappen Pants, ein Gesicht auf den Oberschenkel tätowiert, dann hat sie noch etwas von der Kellnerin, die sie gewesen ist, bevor sie zur Polizei kam.
Kathryn Nance war 21 Jahre alt. Sie hatte sich am College für Soziologie eingetragen, nebenher für eine Fastfoodkette gearbeitet, ihre beiden Kinder bekommen, und jetzt brauchte sie eine Krankenversicherung. Ihre Mutter sagte, sie solle mal bei der Stadt schauen. Und die suchte gerade Polizisten. Das war, als Dwane Milnes sich vorgenommen hatte, die Mordrate zu senken.
Nance ging an die Polizeischule, ein halbes Jahr. Sie lernte schießen, die wichtigsten Gesetze und wie man schnell mit dem Auto fährt. Das ist 16 Jahre her. Nance war Streifenpolizistin, hat gegen Gangs ermittelt. Heute ist sie 37 und die Vorsitzende der Polizeigewerkschaft. Der härtesten Gewerkschaft von Stockton.
„Wir kommen mit dem Einstellen nicht hinterher“, sagt sie. Es ist das Letzte, was man von der Polizei in der größten Pleitestadt der USA denken würde.
Stockton hat die Zahl der Polizisten in den vergangenen Jahren um ein Viertel reduziert. Die Polizei registriert Einbrüche nur mit Tagen Verspätung, ermittelt bei Autodiebstahl nicht mehr, hat die Drogeneinheit gestrichen und die für Gangs. Zu Unfällen fahren Polizisten nur, wenn jemand ins Krankenhaus musste.
Dennoch werden ständig neue Leute eingestellt. Weil noch mehr verschwinden. „Seit Januar 2011 sind 29 Kollegen in andere Städte gewechselt“, sagt Nance.
Kürzlich ist auf einen ihrer Kollegen mit einem Maschinengewehr geschossen worden, bei einer Verkehrskontrolle. Sie ist um jeden Abend froh, an dem sie unverletzt nach Hause kommt, sagt sie. Ihr Gehalt und das ihres Mannes sind in den vergangenen Jahren um etwa 30 Prozent gekürzt worden. Ihr Mann verteilt Strafzettel in Stockton. Sie mussten in ein kleineres Haus ziehen.
Stockton soll mehr sparen, sagen die Versicherer
„Wir verdienen gut“, sagt Kathryn Nance. 6.200 Dollar im Monat bekomme ein Polizist nach fünf Jahren im Dienst. Das Durchschnittsgehalt in Kalifornien ist um die Hälfte niedriger. Aber: „Wir sind die am schlechtesten bezahlten Polizisten im ganzen Bundesstaat.“ Warum soll man in einer gefährlichen Stadt für weniger Geld arbeiten?
Die Achtung vor der Polizei in den Neunzigern hat sie so teuer gemacht, dass Städte wie Stockton sich keine mehr leisten kann.
Schon im Sommer 2006, als die Lehman-Banker Stockton zur Schuldenverlagerung raten, zeichnet sich ab, dass der Häuserboom eine Häuserblase ist. Im Frühjahr 2007 zeigen es erste Statistiken. Überall in Kalifornien werden in den kommenden Jahren Häuser zwangsversteigert. Banken, die großzügig Kredite vergeben hatten, setzen die Leute auf die Straße.
Stockton schließt im Frühjahr 2007 den Lehman-Deal ab. Um die Zinsen, die es für seine Schulden zahlte, noch weiter zu senken, lässt die Stadt ihre Anleihen versichern. Die Versicherer verdienen gut am steuergünstigen Geschäft mit den Schulden.
In den folgenden Monaten wird Stockton zur Stadt mit den meisten Zwangsversteigerungen. Die Steuereinnahmen sinken drastisch. Die Schulden wachsen. Dwane Milnes ist in Rente, seinen Nachfolger hat der Stadtrat rausgeschmissen. Die Immobilienblase ist geplatzt, Stocktons Optimismus verschwunden – Lehman Brothers gibt es nicht mehr. Aber eine Stadt kann man nicht abwickeln wie eine Bank. Und sie bekommt auch keine Hilfe vom Staat.
Die zwangsversteigerten Häuser verteilen sich über den ganzen Ort. Man muss genau hinsehen: die Verkaufsschilder im Rasen der Vorgärten ähneln denen der Alarmanlagenhersteller. Weniger Schwimmbäder, mehr Schlaglöcher, verfallene Häuser, verkümmerte Parks, weniger Bücher für Büchereien, weniger Hausaufgabenhilfe, weniger Betreuung für sozial schwache Jugendliche, 43 Prozent weniger Personal bei der Stadt.
Die Wertschätzung für die Polizisten, für die Feuerwehrleute, sie ist dahin. Nicht mehr nur Konservative fordern, Gewerkschaften zu entmachten.
Nach dem Ausbruch der Finanzkrise lässt die US-Regierung die Vorgänge in den Geldinstituten untersuchen. Stockton und andere Städte klagen. Banken haben Zinssätze für Anleihen jahrelang so manipuliert, dass den Städten Milliarden entgingen. Im Juni wurden mehrere Banker deswegen in New York verurteilt. „Der Betrug, den Wall Street von der Mafia lernte“, titelte ein Magazin. Das Verfahren von Stockton läuft noch.
Die Geschäftsleute in der Innenstadt von Stockton bezahlen jetzt die Polizei, damit sie vor ihren Geschäften patrouilliert.
Ann Johnston finanziert noch keine Polizisten, sie lässt die Prostituierten, die manchmal an der Ecke stehen, von ihren Verkäuferinnen verscheuchen, sagt sie. Johnston hat ein Luftballongeschäft. Sie verkauft Delphinballons, Ballons mit US-Flaggen und Segenssprüchen zur Taufe. „Wir haben bisher Glück gehabt“, sagt Johnston. Noch kein Überfall. An diesem Augustnachmittag trägt Johnston große Ohrringe und eine Bluse, die etwas an ein Zebra erinnert. Morgens um neun hat sie sich mit dem Polizeichef, mit dem Bezirksstaatsanwalt und dem Vorsitzenden der Handelskammer getroffen, um zu besprechen, wie man trotz zusammengekürzter Polizei das Morden in Stockton stoppen kann.
Ann Johnston ist nicht nur Ballonhändlerin, sie ist auch die Bürgermeisterin von Stockton. Manche Schwimmbäder, sagt Johnston, seien von einer örtlichen Jugendorganisation übernommen worden. Die Zivilgesellschaft muss einspringen, wo die Stadt sich zurückzieht.
Trotzdem fordert der Anleihenversicherer Assured Guaranty, Hauptsitz auf den steuergünstigen Bermudas, Stockton auf, noch weiter zu kürzen. Damit die Versicherer keine Kreditausfälle zahlen müssen.
Der Wirtschaftsprofessor Jeffrey Michael sagt, die Versicherer hätten im Gegensatz zu den Stadträten das hohe Risiko des Lehman-Deals 2006 einschätzen können. Es war für sie ein gutes Geschäft. Sie weigern sich, die Konsequenzen zu tragen.
Stockton sei nicht pleite, teilt der Versicherer Assured Guaranty mit. Es spare nur nicht genug.
„Stockton ist bankrott. Das ist nicht zu übersehen“, sagt die Bürgermeisterin im alten Rathaus mit griechischen Säulen.
Die von der Stadt finanzierte Krankenversicherung für die über tausend pensionierten Stadtmitarbeiter, zu denen auch Dwane Milnes zählt, wird bald 10, 12, 14 Millionen im Jahr kosten. Die Rentenzahlungen für Polizei, Feuerwehr, für Stocktons Angestellte werden sich in den kommenden zehn Jahren fast verdoppeln. Die Raten, die die Stadt für die von Lehman empfohlenen Anleihen zahlen muss, werden von 5 Millionen auf 7 Millionen Dollar steigen.
Die Stadt will die Krankenversicherung für Rentner wie Dwane Milnes nicht mehr zahlen. Milnes hat dagegen geklagt. Er könnte die Beiträge für die Versicherung selbst zahlen, sagt er, viele, die weniger verdient haben, aber nicht. Wenn sie nicht zahlen, verlieren sie ihre Versicherung. Für die Kranken unter ihnen könne das lebensbedrohlich werden, sagt Milnes. Es steht das Interesse der Allgemeinheit, die Büchereien will, Schwimmbäder, gegen das einiger weniger Rentner, die Medikamente brauchen, Behandlungen. Aber will die Allgemeinheit für ihre Bäder Leben gefährden?
Auch Obamas Reden klingen nachdenklicher
Warum hat, als das alles anfing, niemand an die Zukunft gedacht?
Es war eine andere Zeit, sagt die Bürgermeisterin, die damals im Stadtrat saß. Man habe jedes Jahr Überschüsse erwirtschaftet. Die Leute kauften Häuser.
Auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten sagt Barack Obama, dass es die ganze amerikanische Wirtschaft schützt, wenn einer Familie keine Hauskredite mehr angedreht werden, die sie sich nicht leisten kann. Eine nachdenkliche Rede, nicht sehr optimistisch.
Im Nachhinein wisse man es immer besser, sagt Dwane Milnes. „In dreißig Jahren werden die Leute sagen: Was haben die da für einen Blödsinn gemacht. Egal, was die heute tun.“
Es ist ein sonniger Tag im Tal des San Joaquin River, der von Stockton zum Pazifischen Ozean führt. In der Zeitung steht, dass die Ratingagentur Moody’s weitere Städtepleiten voraussagt.
■ Johannes Gernert, 32, ist sonntaz-Redakteur und arbeitet momentan als Arthur F. Burns Fellow in Kalifornien. Seine Heimatstadt Ochsenfurt hat 11.223 Einwohner und 5,6 Millionen Euro Schulden