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Archiv-Artikel

ein fall für sherlock schulz von JOACHIM SCHULZ

Ich saß bei Theo, und wir hatten uns gerade gefragt, was wir mit dem Nachmittag anfangen sollten, als das Telefon klingelte. „Das war Anne“, sagte Theo, als er vom Telefon zurückkam: „Sie braucht uns. Bernd ist verschwunden!“ – „Verschwunden?“, erwiderte ich: „Ist er Zigaretten holen gegangen und nicht zurückgekehrt?“ – „Volltreffer“, sagte Theo grinsend, und ich erwiderte: „Nicht sehr fantasievoll, aber zweifellos ein Fall für den großen Holmes. Also, Watson, auf geht’s!“

20 Minuten später trafen wir bei Anne ein. Der große Holmes nahm die Ermittlungen auf. „Nun“, sagte ich, „wie lange ist er schon weg?“ – „Zwei Stunden“, flüsterte Anne. „Na ja“, sagte ich: „Das ist nicht viel. Vermutlich geht er spazieren.“ – „Quatsch!“, zischte Anne: „Bernd hasst Spaziergänge! Und außerdem reichen zwei Stunden einem Serienkiller ja wohl locker aus, um jemanden zu zersägen und im Wald zu vergraben!“

Der große Holmes zog es vor, sich an solchen Spekulationen nicht zu beteiligen. Stattdessen setzte ich die Befragung fort: „Wohin wollte er denn gehen?“ – „Er hatte kein Kleingeld“, antwortete Anne, „er wollte zur Tankstelle radeln.“ – „Aha“, murmelte ich, als ein Hämmern ertönte. „Was ist das?“, fragte ich. „Die Nachbarn“, seufzte Anne: „Sie nageln seit Stunden Bilder an die Wand oder so.“ – „Aha“, sagte ich. Selbstverständlich musste Sherlock Schulz auch Anne zu den Verdächtigen zählen. Konnte es sein, dass Bernd im Schrank eingeschlossen war und gegen die Tür wummerte? Dass sie ihn eingesperrt hatte, um ihn später zu zersägen? Ich schlenderte wie absichtslos durch die Wohnung und spähte in die Schränke. Doch keine Spur von Bernd. Nichts deutete auf ein Verbrechen hin. Wahrscheinlich radelte er längst in Richtung Le Havre, um sich nach Brasilien einzuschiffen und dort ein völlig neues Leben zu beginnen.

Als ich das Schlafzimmer verließ, öffnete Theo gerade die Wohnungstür. „Was machst du?“, flüsterte ich. „Ich finde, dieses Hämmern hört sich nicht an, als ob jemand Nägel einschlägt“, sagte er. Ich folgte ihm zur Kellertreppe. „Es wird lauter!“, sagte er. Wir gelangten an eine schwere Metalltür. „Hilfe! Irgendein Depp hat mich eingesperrt, als ich mein Fahrrad holen wollte!“, hörten wir Bernd hinter der Tür rufen. Auch Anne war mittlerweile die Treppe heruntergekommen. „Den Schlüssel!“, sagte ich scharf zu ihr, und während Theo die Tür aufschloss, blickte ich sie streng an: „Gib zu, dass du ihn eingesperrt hast und zersägen wolltest!“, sagte ich, doch statt einer Antwort bekam ich nur eine Ohrfeige. Dann stürzte Bernd aus dem Keller hervor und teufelte auf sie ein: „Seit Stunden hämmere ich gegen die Tür, und du hörst mich nicht!“ Das ließ sich Anne nicht gefallen: „Spinnst du? Ich bin fast vergangen vor Sorgen!“, fauchte sie, und so stiegen sie, die uns längst vergessen hatten, die Treppe hinauf und verschwanden streitend in ihrer Wohnung.

„Bravo, Watson!“, sagte ich und rieb mir die Wange: „Nur schade, dass uns diese ungehobelten Menschen kein Gläschen Port zum Dank anbieten. Doch wenn ich mich recht besinne, steht bei Ihnen im Schrank noch eine Flasche von dem guten Vintage-Jahrgang 1991, nicht wahr?“ Und Theo nickte und grinste.