berliner szenen: Nacken wie alle, die zu viel sitzen
Ich saß im Warteraum der Neurochirurgie und las ein Buch, das „Sterben“ hieß. Mit mir warteten fünf andere. Zwei Paare, ein Alleinstehender. Der weibliche Teil eines Paares hatte dunkelrote Haare, deren Rot eine Spur dunkler war als das ihrer schwarz-rot-karierten Ska-Punk-Hose. Sie war etwa Anfang 40. Sie hatte sich eine schwarze Plastikbrille (eine Lesebrille von Rossmann) auf den Kopf geschoben, und in ihrem Ausschnitt glänzte ein kleines, silbernes Kruzifix.
Vor ihr stand ein Rollator, der ihr als Stütze und als Transportmittel für Handtasche und Orangensaftflasche diente. Punk ist nicht tot, dachte ich, er schiebt nur mit Rollator durch die Welt. Mir ging es ja kaum besser.
An diesem Tag hatte ich Rückenschmerzen, seitdem ich ein Paket abgeholt hatte: Darin war der bestellte ergonomische Schreibtischstuhl. Jetzt, da ich ihn zusammengebaut hatte, stand er im Arbeitsraum, und ich saß mit Rücken in der Neurochirurgie. Auf einem nicht ganz so rückenschonenden Hartschalensitz. Eigentlich war ich aber wegen meines Nackens da. Ein Tech-Neck, wie ihn fast alle Menschen, die zu oft auf ihre Telefone schauen, haben. Wie all die Schreibtischkranken. Wie Autofahrer. Wie Fernfahrer. Wie alle, die zu viel sitzen. Seitdem ich Nacken habe, fallen mir immer wieder Leute auf, die in der U-Bahn Übungen machen. Sie kippen den Kopf nach rechts, reckten ihn nach links. Das Bild eines jungen Manns auf einem Konzert hatte mich tagelang verfolgt: Er ließ den Kopf alle ein bis zwei Minuten schräg nach rechts unten kippen. Und wieder hoch, und wieder von vorn. Ich drehte den Kopf nach links, was kein Problem war.
Die Punkerin sah müde aus. Im Fenster über ihr schälte sich die Sonne aus den Wolkenbergen, die sich seit Wochen am Himmel festgesetzt hatten. Die Sonne. Es gab sie wohl noch. Das erstaunte mich. René Hamann
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