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Archiv-Artikel

Crossing um zwölf Uhr mittags

In der Schöneberger „Raststätte Gnadenbrot“ serviert sich Westberlin ein, tja, Gnadenbrot: Die Gäste sitzen an Tischen, die wie Autobahnrasthöfe heißen, und feiern mit dem Mut der Verzweiflung das Kochen nach Buchstaben. Das schmeckt gut, ist aber geschmacklich gewollt nicht einwandfrei

VON WIEBKE POROMBKA

Hier läuft die Ware nicht vom Band, hier ist der Name noch Programm: „Raststätte Gnadenbrot“ – ein Zufluchtsort, der dort liegt, wo die schwule Szenekultur der Schöneberger Motzstraße langsam verebbt und die beschauliche Familienidylle des Viktoria-Luise-Platzes sich noch nicht ahnen lässt. Zwischen den grauen Architektur-Ungeheuern der Sechziger- und Siebzigerjahre, gleich neben dem alten Westberliner Kult-Ort „Sexyland“, hat im vergangenen Herbst eine Kneipe eröffnet, die dem unablässig die Martin-Luther-Straße hinunterrauschendem Verkehr nicht nur trotzt: Sie feiert ihn mit dem Mut der Verzweiflung.

Jedenfalls lässt man sich die Laune nicht verderben. Das Stilprinzip der Raststätte nennen die Betreiber „Crossing“: „Wir bringen die Sachen zusammen, die nicht zusammengehören“, sagen Richard Stein und Wolf Maack. Mit fast derselben Idee haben die Betreiber schon „Möbel Olfe“ hinter dem Kottbusser Tor zu einem Erfolg gemacht. Und in Schöneberg funktioniert das allemal.

In der „Raststätte“ haben sie den Großteil des Mobiliars vom Vorbesitzer übernommen, der hier einen Balkan-Grill geführt hat, den man wohl kaum betreten hätte. Über der Theke aus dunklem Holzfurnier hängt eine Reihe grüner Glaslampen, deren Kabel mit dickem Seil umwickelt sind. Das gab es nur in Papas Partykeller. Wenn da auch kein Mix aus Schlager, Japan-Techno und Ska lief, so gab es dort zumindest die dunklen Holzpaneele an den Wänden, die pseudorustikale Bestuhlung und, klassisch, die umlaufende Eckbank. Ergänzt wird das Ganze durch etliche schräge Details: Falsche chinesische Seidenkissen, Breitwandfotos von Autobahnen, vollendet durch eine auf grauenhafte Weise mit Stroh beklebte surrealistische Styroporwucherung aus Hasen und Rehen, die eine ganze Wand schmückt.

Bevor man bei diesem Anblick vom Stuhl fällt, schaut man lieber, was es zu essen gibt. Montags wird nach Buchstaben gekocht. An meinem Montag ist das „E“ an der Reihe, es gibt Erbsensuppe Hausfrauenart, Erdfrische Kartoffelspalten und, ein bisschen gemogelt, Esthers Gemüsebulette und Evidenten-Salat. Dazu Graubrot und Kräuterbutter satt. Die Idee zum Kochen nach Buchstaben ist, wie das ganze Ambiente, eine Reminiszenz an längst verflossene Kindertage. Aus dem Bücherschrank der Eltern hat einer der Betreiber ein 26-bändiges Kompendium mitgenommen, in dem der Hausfrau das Weltwissen der Küchenkunst von A bis Z vermittelt wird – was für eine Vorlage für ein liebevolles Koch-Weekly!

„Teufelstal. Zwei Essen für Teufelstal“, spricht der Barmann in ein Mikro, das auf der Theke steht. Ein kurzer Blick zu einem Pärchen, das auf Entrecôte und Etruskisches Fenchelgemüse wartet, sich aber gerade nicht angesprochen fühlt. Der Mann hinter dem Mikro zuckt die Schultern, lässt die beiden Mitropa-Teller stehen und zapft sein Bier weiter. Irgendwann werden die beiden schon merken, dass jeder Tisch nach einer Autobahnraststätte benannt ist und dass man sich Essen und Besteck selber holen muss. Die Stammkunden an den Tischen „Helmstedt“ und „Dreilinden“ grinsen zufrieden. Sie wissen, wie das Schicksal sie ruft.

Die Raststätte ist kein Ort für schrille Events zum Schenkelklopfen. Es gibt Essen – und zwar gutes und preiswertes – mit ein bisschen Drumherum, das so auf jeden Fall keine allzu homogene Hipster-Szene anzieht. Das Einzige, was alle Gäste verbindet, ist der nostalgische Hang, über die Verfehlungen eines Lebensstils zu lachen, den die Vorfahren verbrochen haben. Ein Blick auf den Altersdurchschnitt von Gästen und Betreibern zeigt, dass dieser Witz nicht mehr den Twens gehört. Die feiern in Mitte oder im Friedrichshain. In der Raststätte gibt man sich Skurrilitäten hin, die Menschen über dreißig und mit Hang zum „Crossing“ wohl am besten genießen können. Wer das „Kumpelnest 3000“ in der Lützowstraße schätzt, wird die Raststätte lieben. Und wer Schöneberg noch von früher kennt, dürfte sich hier wie zu Hause fühlen. Wohl dem, der spät in die Heimat zurückkehrt und dem man dort ein Gnadenbrot serviert.

Martin-Luther-Str. 20a, geöffnet ab 12 Uhr mittags. www.raststaette-gnadenbrot.de