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Kara-Ben-Nemsi-Dämmerung

Philipp Schwenkes Debütroman „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ erzählt von Karl Mays desillusionierender Orientreise

Von Frank Schäfer

Ende des 19. Jahrhunderts war Karl May ein Popstar avant la lettre. Er verkaufte ein Image und log dabei, dass sich die Balken bogen. Der manische und überaus einfallsreiche Geschichtenerzähler machte sich selbst zum Helden seiner Orient- und Wildwestscharteken, insistierte also auf dem Wahrheitsgehalt seiner „Reiseerzählungen“, und das deutsche Publikum wollte diesen Schmarrn nur zu gern glauben.

Anders ist gar nicht zu erklären, wie dieser in seinem Westernerkostüm fast versinkende Schreibtischhengst auf den Autogrammpostkarten, die er von sich drucken und verkaufen ließ, tatsächlich mit der alten Schmetterhand verwechselt werden konnte – diesem ­Captain Germany ohne Superheldenmaske, der Schurken mit einer Leichtigkeit niederstreckt, als pflücke er Blümchen. Karl May führt seinen Lesern eben nur vor, was sie ohnehin längst wissen – dass am treudeutschen Wesen die Welt genesen müsse. Und seine Scharlatanerie war vielleicht auch deshalb so überzeugend, weil er selbst irgendwann nicht mehr recht zwischen Fiktion und Wahrheit unterscheiden konnte. Die Ferndiagnose der psy­chologisch interessierten Karl-May-­Forschung lautet auf narzisstische Persönlichkeitsstörung.

Das ist auch die Grundannahme, von der ­Philipp Schwenke in seinem Debütroman ausgeht. „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ ist ein voluminöser historischer Roman, der vor allem Mays Jahre von 1899 bis 1902 beleuchtet. Es ist die Zeit, in der Karl Mays schriftstellerischer Ruhm zu bröckeln beginnt, langsam Zweifel auftauchen an der Glaubwürdigkeit seiner vielbändigen Heroensaga und in der er seine erste Auslandsreise unternimmt. Gleich mal in den Orient, um allen Kritikern zu beweisen, dass er doch der kosmopolitische Schriftsteller ist, der er zu sein vorgibt.

Dort erlebt er einen Realitätsschock. Er muss das Bild korrigieren, das er sich und das er seinen Lesern vom Orient gemacht hat. Vor allem aber steht sein geschöntes Selbstbild zur Disposition. Schwenke nutzt das komische Potenzial dieser schmerzhaften Erkenntnis, indem er Karl May mit Situationen konfrontiert, in denen die Qualitäten eines Kara Ben Nemsi gefragt sind, ein alternder, wohlstandsverweichlichter Tourist mit „Baedeker“ unterm Arm jedoch zwangsläufig scheitern muss. Am Ende kann ihn wieder nur seine barmherzige, die schnöde Realität euphemistisch zurechtbiegende Imaginationskraft retten.

Philipp Schwenke: „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 608 Seiten, 23 Euro

Der historische Karl May hat zwei Nervenzusammenbrüche auf dieser Reise, Schwenke nutzt sie als Lizenz, um die wenig bekannten realen Ereignisse halluzinatorisch auszuschmücken – so wird auch diese reale Reise bei Schwenke mehr und mehr zu Mays Fantasietrip.

Aber schließlich lässt sich die Wirklichkeit nicht mehr verleugnen, sie bricht ein in seine Welt, auch in Gestalt von polemischen Zeitungsartikeln aus der Heimat, die ihn als gran­dio­sen Hochstapler entzaubern. May geht geläutert aus dieser Reise hervor und zieht sich von jetzt an auf das Allegorische zurück. Die großen Taten als West- respektive Ostmann seien selbstredend nicht wörtlich gemeint, sondern Symbole für das allgemein Menschliche.

Sein verstiegenes, von Arno Schmidt und Hans Wollschläger geschätztes Spätwerk, das viel vom Reich der Edelmenschen zu erzählen, aber damit natürlich kein echtes Lesefieber mehr zu entfachen weiß, nimmt hier seinen Anfang. Und eine schwere Ehekrise. Denn Emma, seine promiskuitive, pragmatische und selbstbestimmte Frau, die Schwenke grandios lebensprall porträtiert, ist nach seiner Heimkehr schwer gelangweilt von der forcierten Vergeistigung ihres Gatten und seinem entschiedenen Hang zum Predigen. Sie sucht Trost, nicht zuletzt erotischen, bei ihrer Freundin Klara Plöhn, der auch Karl May durchaus zugetan ist. Und so beginnt eine Menage à trois. Sodom und Gomorrha in der Villa Shatterhand.

Schließlich bricht die Wirklichkeit ein in Karl Mays Welt, auch in Gestalt von polemischen Zeitungsartikeln aus der Heimat, die ihn entlarven

Philipp Schwenke erzählt nicht nur über Karl May, sondern auch mit dessen Mitteln. Offensichtlich um allzu starke stilistische Brüche zu den diversen, souverän einmontierten Originalquellen zu vermeiden, imitiert er den behaglichen, ein bisschen betulichen Onkelgestus des späten 19. Jahrhunderts. Fast noch schöner wäre es gewesen, wenn er diese Stilmimikry durchgehalten und sich die gelegentlich etwas didaktischen Ironiesignale erspart hätte. Aber mit dem bigotten, prüden, patriarchalischen Biedermann der Zeit wollte er sich dann wohl doch nicht gemeinmachen.

„Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ ist ein intelligenter, gut recherchierter, psychologisch einfühlsamer, aus der historischen Distanz des Erzählten und nicht zuletzt aus der Kauzigkeit seines Helden immer wieder komödiantische Funken schlagender Unterhaltungsroman, seinem Vorbild gemäß durchaus mit Pageturner­qualitäten.

Karl May macht hier zwar oft eine komische Figur, ist aber auch keine bloße Lachnummer. Die Tragik dieses „armen, verwirrten Proleten“ (Ernst Bloch), der in seiner dichterischen Selbstermächtigung irgendwann jegliches Maß verliert, grundiert noch stets das Lächerliche.

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