: Eine Vision in den Kinderschuhen
Sollte die radikale Steuerreform von Paul Kirchhof verwirklicht werden, würden Beschäftigte steuerlich profitieren. Die Frage ist nur, wer das bezahlt
VON HANNES KOCH
Die Kanzlerkandidatin der Union, Angela Merkel, zieht mit einem großen Versprechen in den Wahlkampf. Alle Bürger sollen dereinst weniger Steuern zahlen – das ist die Vision, die Paul Kirchhof, Merkels Schatten-Finanzminister, verkörpert.
Nimmt man Merkel und Kirchhof beim Wort, sieht die Zukunft in der Tat rosig aus – für die meisten Beschäftigten. Sollte Kirchhof erstens Finanzminister werden und zweitens so mächtig, dass er seine Vision schließlich durchsetzen kann, würde der Steuersatz für alle Einkommen 25 Prozent betragen. Heute dagegen steigt die Steuer von 15 Prozent für Geringverdiener bis auf 42 Prozent für Spitzeneinkommen. Rechenbeispiele der taz belegen, dass breite Schichten der Bevölkerung vom Kirchhof-Modell steuerlich profitierten.
Zum Beispiel die meisten verheirateten Eheleute mit Kindern. Sie kämen in den Genuss des neuen Kirchhof’schen Freibetrags in Höhe von 8.000 Euro pro Person. Ehepaare mit zwei Kindern bräuchten somit bis zu einem Einkommen von 36.000 Euro Jahresbrutto nichts mehr an das Finanzamt zu überweisen.
Zusätzlich zu traditionellen Familienverhältnissen und Kinderreichtum will Kirchhof gute Mittelstandseinkommen begünstigen. Diese werden zum Teil stark entlastet, weil der Steuersatz sehr viel günstiger ausfallen würde als heute. Diese Wirkung belegt das taz-Beispiel des Angestellten mit einem Jahreseinkommen von 50.000 Euro brutto (siehe unten).
Während der Kritiker aus der SPD und der kritischen Ökonomie Kirchhof tiefgreifende Ungerechtigkeit vorwerfen, weil er auch Millionäre mit nur 25 Prozent Einkommensteuer belegen will, zeigen konkrete Rechenbeispiele das Gegenteil. Menschen mit Jahreseinkommen zwischen 100.000 und 200.000 Euro, die derzeit hohe Steuerabzüge geltend machen, weil sie in Immobilien oder Fonds investieren, müssten mehr Geld an das Finanzamt überweisen. Das liegt daran, dass Kirchhof – zumindest in der Theorie – sämtliche Verlustverrechnungen bei der Einkommensberechnung streichen will. Die ledige Managerin eines Mittelstandbetriebs mit 120.000 Euro Jahresbrutto würde rund 7.000 Euro mehr Steuern zahlen.
Einer Mehrheit von Profiteuren steht aber auch eine deutliche Minderheit von Benachteiligten gegenüber. Nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler würden gerade Geringverdiener zusätzlich belastet, die weniger als 20.000 Euro Jahreseinkommen erhalten. Kinderlose Paare zahlten bis zu einem gemeinsamen Verdienst von 30.000 Euro mit Kirchhof mehr als ohne ihn.
Hier macht sich Kirchhofs Radikalität bemerkbar. In seinem Buch „Der sanfte Verlust der Freiheit“ listet er genüsslich auf, wie der Normalmensch heute seine Steuer drückt: mit der Pendlerpauschale für Wege zum Arbeitsplatz, steuerfreien Zuschlägen für Nachtarbeit und steuerfreien Trinkgeldern. Um auch diese der Steuer zu unterwerfen, will Kirchhof die Gaststättenbesitzer verpflichten, die entsprechenden Einnahmen der Kellner beim Finanzamt zu melden.
Aber auch für höhere Einkommen kann als Faustregel gelten: Wer keinen Nachwuchs auf seiner Rechnung hat, zahlt mitunter drauf. Das trifft beispielsweise Mittelstandsehen um die 50.000 Euro Einkommen.
Die wirklichen Verlierer der radikalen Steuersenkung und -vereinfachung, so ist zu vermuten, dürften aber jenseits der Klasse der Beschäftigten zu suchen sein. Das Bundesfinanzministerium hat die Verluste für die öffentlichen Kassen im ersten Jahr mit rund 43 Milliarden Euro angegeben, bei voller Wirksamkeit – wenn alle Abschreibungen gestrichen sind – immerhin noch mit rund 11 Milliarden. Dieses Geld fehlt dem Staat, und er wird es vor allem bei denen einsparen, die auf öffentliche Unterstützung wie Arbeitslosen- oder Sozialgeld angewiesen sind.
Das Besondere an Kirchhofs Vision ist derzeit freilich: Sie ist radikal – doch in weiten Teilen nebulös. Das Konzept seines Kollegen beschreibt der Tübinger Wirtschaftsprofessor Wolfgang Wagner als „vollkommen unbestimmt“. Es eigne sich als „Programmatik“, aber nicht dazu, die „Steuer zu vollziehen“. So sei Kirchhof sich selbst nicht im Klaren, bemängelt Wagner, was er unter zu streichenden „Ausnahmen“ verstehen wolle. Während im Buch „Der sanfte Verlust der Freiheit“ noch von 163 Ausnahmetatbeständen die Rede ist, spricht der Steuerreformator neuerdings von 418 Ausnahmen.
Auch vor dem Hintergrund der realen Politik ist unklar, was Paul Kirchhof wollen darf. Falls er Finanzminister wird, muss er zunächst das viel weniger weitgehende Steuerkonzept der Union umsetzen. Der Spitzensteuersatz soll dann bei 39 Prozent liegen und nicht 25 Prozent. In einer zweiten unionsgeprägten Legislaturperiode ab 2009 könnte der Steuermann möglicherweise weiter gehen, aber auch dann ist sein Bewegungsspielraum eingeschränkt. So wird man erst in zehn Jahren wissen, ob Kirchhof wirklich den Wohlhabenden alle ihre Abschreibungsmöglichkeiten genommen hat. Falls, was wahrscheinlich ist, er vor dem Druck der Lobbys kapituliert, bekommen die Reichen ihre Steuersenkung, ohne andererseits die Kosten zu tragen.