: „Musik darf nicht von Hitler oder Stalin überschattet werden“
MUSIK IM 20. JAHRHUNDERT Gespräch mit Alex Ross, Musikkritiker des „New Yorker“, über das Soziale und das Ästhetische in der Kunst
■ Der Journalist: Er ist 41, Musikkritiker des New Yorker; in Washington, D.C. aufgewachsen, hat an der Harvard-Universität Musik und Geschichte studiert.
■ Der Blogger: Er ist ein fanatischer Blogger. Auf seinem Blog therestisnoise.com weist er unterschiedslos auf klassische Musik, Avantgarde, Jazz und Pop hin und bietet seinen Lesern oft Hörbeispiele zum Download an.
■ Der Buchautor: Sein nun auf Deutsch erscheinendes Buch „The Rest is Noise“ ist in den USA ein Renner. Björk und die Pet Shop Boys zeigten sich begeistert.
INTERVIEW JULIAN WEBER
taz: Bertolt Brecht hat einmal gesagt, Musik machen sei besser als hören, was meinen sie?
Alex Ross: In einer idealen Welt würde jeder für sich selbst Musik machen. Dann bräuchte es auch keine Aufnahmen und Konzerte. Brechts Aussage passt gut zur Professionalisierung des Musiklebens im 20. Jahrhundert, wo es inzwischen für alles eine Nische gibt. Aber es hat sich auch eine Lücke zwischen Zuhörern und Musikern aufgetan. Letztere vollführen auf der Bühne ein unnachahmliches magisches Ritual und Erstere verfolgen es passiv zuhörend. Für das Kulturleben wäre es aber gesünder, wenn mehr Menschen Musik spielen würden.
Ihr Buch verknüpft die Entwicklung klassischer Musik im 20. Jahrhundert sehr eng mit den gesellschaftlichen Prozessen, warum?
Auch in den USA beurteilte man klassische Musik lange Zeit rein nach formalen Aspekten. Politische und soziale Implikationen wurden oft vermieden. Ich finde, es lässt sich viel über Musik lernen, wenn man ihre soziologischen Dimensionen berücksichtigt. Ich habe selbst eine klassische Musikausbildung durchlaufen, mich aber immer auch für Geschichte, Kunst und Literatur interessiert. Beim Schreiben von „The Rest is Noise“ wurde mir klar, dass ich die Musik des 20. Jahrhunderts im Lichte ihrer politischen Umstände diskutieren muss. Trotzdem gilt es, vorsichtig zu sein und keine eindimensionalen Schlüsse aus dem Verhältnis von Musik zu ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Kontexten zu ziehen. Es bleibt immer ein Rest Unsicherheit, warum sich bestimmte Komponisten in dieser oder jener Musikfarbe oder -form zu einer bestimmten Zeit ausgedrückt haben. Man hört sich Musik auf verschiedene Weisen an: intellektuell, kontextuell oder eben intuitiv, sinnlich.
Warum beginnt Ihr Buch mit Gustav Mahler?
In seiner Musik kommen multiple modernistische Identitäten zum Tragen. Zwischen 1900 und 1910 tauchen dissonante Klänge bei ihm auf. Aber es gibt bei Mahler auch eine Art ironische Abwandlung des Bestehenden. So benutzt er Ländler-Zitate und führt diese kitschigen Motive in katastrophische Szenen. Gleichzeitig schaut Mahler zurück und sehnt sich nach der Romantik. Nostalgie und Trauer sind seiner Musik inhärent. Auch das ist Modernismus: eine Stimme, die sich gegen die Moderne erhebt. Mit Mahler wollte ich unterstreichen, dass die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts aus Parallelwelten besteht, die sich simultan auffächern.
Wien gilt als die erste Musikmetropole der Moderne. Dort wurden auch zuerst die Skandale von Musikern ruchbar.
Es gibt Referenzen in den Kompositionen von Alban Berg, die auf sein turbulentes Liebesleben anspielen. Und Arnold Schönbergs Ehekrisen schlugen sich stets in seinen Werken nieder. Das wissen wir, weil es in ihren Tagebüchern steht. Damals erfuhr die Öffentlichkeit wenig von dem, was hinter den Kulissen passierte. Skandale spielten sich im Musikalischen ab. Die Zuhörer waren von der Atonalität schockiert. Das setzt sich bis heute fort. Wenn Schönberg in New York aufgeführt wird, spürt man bei den Zuhörern immer ein gewisses Unbehagen. Als Komponist wird Schönberg nicht im gleichen Maße akzeptiert wie etwa Picasso, dessen Motive auf Kaffeetassen prangen. Das Getöse und der Furor in Schönbergs Musik stoßen heute noch auf breite Ablehnung.
Ist es Zufall, dass Schönberg und Hitler mutmaßlich die gleiche Literatur gelesen haben?
Nein, im Wien des frühen 20. Jahrhunderts sind der alte Mahler, der junge Schönberg und der erfolglose Hitler die gleichen Straßen entlanggewandelt und haben die gleiche Literatur gelesen. Etwa Otto Weiningers Kolportage-Bestseller. Weininger war ein Beispiel für jüdischen Selbsthass, der damals auch antisemitisch ausgelegt wurde, eine psychologische Horrorshow mit pseudophilosophischen Untertönen. Für mich ist daran nur ersichtlich, dass eben auch Schönbergs Musik aus dem Chaos erwächst und gewalttätige Impulse hat. Genau das gibt seiner Musik auch Kraft. Mein Buch dreht sich auch um Hitlers Musikgeschmack. Wie die Menschen sich heute mit Wagner beschäftigen, hat auch mit Hitlers Bekenntnis zu dessen Musik zu tun. Musik darf nicht von Hitler oder Stalin überschattet werden. Sie gehört in die Welt, aber sie hat auch eine gegenweltliche Komponente. Wir sind jedenfalls nicht dazu verdammt, Musik so zu hören wie Hitler oder Stalin. Wir haben die Freiheit, ihr Hörempfinden abzulehnen und uns ihre Lieblingskomponisten anders anzuhören.
Ausführlich widmen Sie sich den Komponisten im Totalitarismus.
An Dmitri Schostakowitsch und Richard Strauss lässt sich erkunden, wie Künstler in Diktaturen gewirkt haben. Sie trafen aus freien Stücken Entscheidungen. Trotzdem kann selbst die Musik dieser dunkelsten Phase der Geschichte ihren Bedeutungen entwischen. Schostakowitschs Musik ist auf viele Arten enigmatisch. Auch Strauss hatte eine Fassade, er gibt sich als distanzierter Mann von Welt, der sich mit den Nazis arrangiert hat. An Strauss rütteln aber noch ganz andere Kräfte. Aus seiner Musik spricht etwas Turbulentes, was auf seine Kindheit zurückzuführen ist. Strauss’ „Metamorphosen“ oder die Achte Sinfonie von Schostakowitsch sind für mich Beispiele eines künstlerischen Willens, Musik auch unter schrecklichen Vorzeichen durchzuziehen.
Der Faschismus arbeitete stark mit Emotionalisierungen. Ist die distanzierte und analytische Grundstimmung, die aus der Minimal Music spricht, als eine Antwort auf Massenmord und Genozid zu sehen?
Der große Innovator der Minimal Music, Steve Reich, hat einmal gesagt, er habe in seiner Jugend nur Bach und Strawinsky gehört. Ausgelassen habe er dagegen alles Epische der deutschen Romantik, Beethoven, Brahms und Wagner. Die Quellen, auf die sich Reich bezog, hatten indirekt damit zu tun, dass er der Falle „deutscher Kultur“ entkommen wollte, um eine ganz eigene musikalische Sprache zu finden. Reich vermied in seinen Kompositionen bewusst eine mit der Romantik assoziierte Üppigkeit. Auch bei seinen ersten Aufführungen in den USA kam es zu Skandalen, die Zuhörer hielten Minimal Music nicht aus. Dabei kehrt Reich in gewissem Sinn zur Tonalität zurück.
Sie beschreiben Velvet Underground als Rock-’n’-Roll-Minimalisten. Nun waren die Velvets auch die erste ernsthafte Erwachsenenband der Popgeschichte. Gibt es in der E-Musik zu viel Ernst und zu wenig kindliches Gemüt?
Klassische Musik kann sehr kindlich sein. Der französische Komponist Francis Poulenc war darin sehr erfolgreich. Auch John Cage hat etwas in seiner Musik angelegt, ich würde es nicht kindisch nennen, aber er reißt die ernsthafte Fassade des klassischen Establishments ein, greift sie an und tritt ihr auf die Füße. Ebenso würde ich Maurizio Kagel nennen und vor allem Ligeti. Die Musik des 20. Jahrhundert verarbeitete die Apokalypse, aber sie kann auch sehr kindisch und verspielt klingen.
Sie ironisieren den Klassikbetrieb gern, etwas, was in Deutschland eher selten ist.
Klassische Musik ist in Europa viel stärker Mainstream als in den USA. Es existiert ein Image von Klassik als Soundtrack der Gutbetuchten und Bildungsbürger. Viele Amerikaner entfliehen der Popkultur, indem sie sich einer starren Definition von klassischer Musik bedienen, um so möglichst weit von ihren Populärwurzeln entfernt zu sein. Aber es gibt auch Menschen wie mich, die mit Klassik aufgewachsen sind und von diesem altbackenen Image loskommen wollen. Für mich ist es unvermeidlich, die klassische Musikkultur auf die Schippe zu nehmen.
Sie benutzen gern Metaphern. Etwa, „dieses Dampfbad von einer Sinfonie“. Kann man so über Musik schreiben?
Man kommt gar nicht um Metaphern herum, wenn man Musik beschreibt. Auch noch so objektive analytische Schreibweisen, die wir für Musik haben, bestehen aus Metaphern: Exposition, Brücke, Coda … Meine Lieblingsautoren Joyce, Beckett und Wallace Stevens zeichnet ein starkes Rhythmusgefühl aus. Wenn ich über Musik schreibe, lese ich mir Sätze laut vor und finde heraus, ob der Satzrhythmus im Fluss ist. Ich versuche auch Wendungen zu benutzen, die Musik in sich haben. Das bereitet mir viel Vergnügen. Meinen Lesern hoffentlich auch.
■ Alex Ross: „The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Piper Verlag, München, 2009, 703 Seiten, 29,95 Euro