: Auf den alten CDU-Pfaden
Der Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann vertritt vier Schwerverletzte des Polizeieinsatzes vom 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten bei ihrer Klage gegen das Land. Darunter auch den durch einen Wasserwerferstrahl fast erblindeten Dietrich Wagner. Mann ist unzufrieden: In zwei Jahren hat sich juristisch und politisch wenig bewegt
von Oliver Stenzel (Interview) und Joachim E. Röttgers (Fotos)
Herr Mann, am 28. Oktober 2010 haben Sie Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart eingereicht. Warum?
Wir sind der Meinung, dass der Polizeieinsatz rechtswidrig war, dies soll das Gericht jetzt prüfen. Hat die Klage Erfolg, würde es den anstehenden Schmerzensgeldprozess der Verletzten beim Landgericht begünstigen.
Wie ist der Stand Ihres Verfahrens?
Das Verfahren wurde am 10. Januar 2012 vom Verwaltungsgericht ausgesetzt, mit der Begründung, dass man jetzt erst einmal abwarten wolle, was die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Polizeibeamten ergeben, denen nun offenbar Strafbefehle bevorstehen. Ende Juli hatte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ja bekannt gegeben, dass zwölf Beamte, die beim Einsatz am 30. 9. 2010 beteiligt waren, darunter auch Wasserwerfer-Besatzungen, mit Strafen wegen fahrlässiger Körperverletzung rechnen müssen.
Gibt es für Sie rechtliche Möglichkeiten, gegen die Aussetzung vorzugehen?
Wir hatten uns gegen eine Aussetzung des Verfahrens ausgesprochen, weil die Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes nicht zwingend davon abhängt, ob sich die Polizeibeamten strafbar gemacht haben. Die Rechtswidrigkeit ergibt sich aus anderen Gesichtspunkten. Damit haben wir uns aber beim Verwaltungsgericht nicht durchsetzen können. Jetzt können wir nur abwarten.
Aus welchen Punkten ergibt sich in Ihrer Klage die Rechtswidrigkeit?
Erstens sind wir der Auffassung, dass die Baumfällung in den Morgenstunden des 1. Oktober 2010 rechtswidrig war, weil das Eisenbahnbundesamt dies noch kurzfristig untersagt hatte. Damit war auch der Versuch, den Park zu räumen, bereits rechtswidrig. Aber das Hauptaugenmerk liegt natürlich darauf, dass der Polizeieinsatz völlig unverhältnismäßig war. Denn mit vier Wasserwerfern aufzufahren und auf friedliche Demonstranten zu schießen, mit Pfefferspray- und Schlagstockeinsatz vorzugehen – das war nicht erforderlich und durch nichts gerechtfertigt. Zudem wurden polizeiliche Richtlinien zum Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray missachtet.
Um welche Richtlinien geht es da im Einzelnen?
Es gibt zum Beispiel eine polizeiliche Dienstvorschrift, die PDV 122, in der der Wasserwerfereinsatz geregelt ist. Da steht explizit drin: Wasserwerfer sollen nicht so eingesetzt werden, dass Köpfe getroffen werden. Und allein bei den vier Schwerverletzten sind immer die Köpfe getroffen worden. Außerdem: Wenn die Polizei einen Wasserwerfer einsetzt, muss sie ganz konkret sagen, was jetzt passiert. Das heißt, wenn sie sagt, wir schießen jetzt gezielt auf Sie und erhöhen den Druck. Im Schlossgarten war es aber so, dass die Polizei diese Ansagen nicht gemacht hat. Dietrich Wagner beispielsweise hat überhaupt nicht damit rechnen können, dass jetzt gezielt auf Personen geschossen wird. Und das ist rechtswidrig. Auch der Pfeffersprayeinsatz war meiner Meinung nach rechtswidrig, denn es gibt einen Leitfaden des polizeilichen Dienstes Baden-Württemberg, der besagt, dass Pfefferspray nicht in einem Abstand von unter einem Meter angewandt werden darf. Ein Polizeibeamter hat ja im März 2011 schon einen Strafbefehl bekommen wegen Pfeffersprayeinsatz – bislang der einzige überhaupt im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz.
Nun stehen ja die besagten zwölf weiteren Strafbefehle gegen Polizeibeamte bevor – rund zwei Jahre nach dem Polizeieinsatz. Wurden Verfahren aus diesem Komplex verschleppt?
Also, wenn man sieht, dass teilweise Strafverfahren gegen Stuttgart-21-Gegner verhandelt werden, die nur drei, vier Monate zurückliegen, dann ist das schon verwunderlich. Natürlich war der Einsatz am 30. 9. 2010 vom Volumen her ein völlig anderer Fall als die Aktionen der Demonstranten im Januar dieses Jahres vor dem Südflügel und im Februar bei der Räumung des Schlossgartens. Aber dennoch hätte man das, glaube ich, beherzter angehen können.
Wie bewerten Sie die neuen Verfahren gegen die zwölf Beamten?
Es wurden ja Strafanzeigen gestellt gegen sämtliche Verantwortliche; nicht nur gegen rangniedere Beamte, sondern auch gegen die Kommandeure in den Wasserwerfern und gegen die Einsatzleiter – denn die Besatzungen fangen ja nicht an, mit Wasser zu schießen, wenn sie keinen Einsatzbefehl haben. Ich fürchte aber, dass die Staatsanwaltschaft bei den Hauptverantwortlichen wieder keine Verantwortung sieht und am Ende rangniedere Beamte zu Bauernopfern werden und Strafbefehle kriegen, während bei den eigentlichen Verantwortlichen mit einer Einstellung zu rechnen ist.
Womit wir bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft wären, deren Objektivität – vor allem die von Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler – Sie in der Vergangenheit schon mehrfach stark angezweifelt haben.
Diese Einschätzung hat sich bei mir noch verfestigt. Es gibt immer wieder neue Beispiele, dass gegen Stuttgart-21-Gegner zum Beispiel wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung ermittelt wird, weil diese mit einer Wasserpistole auf einen Bagger gezielt haben oder mit einer Taschenlampe einem Beamten geblendet und somit verletzt haben sollen, während gegen Polizeibeamte und Projektbefürworter sehr zurückhaltend ermittelt wird.
In dieser Sache haben Sie und Ihr Kanzleikollege Matthias H. Müller ja am 28. September 2011 einen Brief an Justizminister Rainer Stickelberger geschrieben, in dem Sie die Entbindung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft von Verfahren in Zusammenhang mit Stuttgart 21 gefordert haben.
Wir haben unsere Forderung unter anderem damit begründet, dass Oberstaatsanwalt Häußler eine objektive Führung der Ermittlungen nicht gewährleisten könne, schon weil er in die Ereignisse verwickelt sei – er war am 30. 9. 2010 vor Ort und befand sich im Wesentlichen bei der Einsatzleitung der Polizei. Auf unseren Brief hin hat der Justizminister eine Stellungnahme von der Generalstaatsanwaltschaft angefordert, die uns auch vorliegt, und hat uns als Kanzlei mitgeteilt, dass er diesem Ersuchen nicht entsprechen werde – er erkenne keine Ungleichbehandlung in einem Ausmaß, das es rechtfertige, die Staatsanwaltschaft Stuttgart von diesen Verfahren zu entbinden. Inhaltlich hat sich Stickelberger damit die Meinung des Generalstaatsanwalts Klaus Pflieger zu eigen gemacht und hat uns auch mitgeteilt, dass es nicht Aufgabe der Politik sei, sich da einzumischen. Pflieger wiederum deckt natürlich seine Staatsanwaltschaft und hat betont, dass er zumindest stichprobenartig über die ganzen Verfahren informiert werde und für ihn ein Verstoß gegen die Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft nicht erkennbar wäre. Das wiederum ist eine Bewertungsfrage, die ich aber ganz anders beurteile.
Hat Sie diese Antwort überrascht?
Stickelbergers Antwort kam für uns natürlich nicht ganz unerwartet. Jeder Justizminister braucht seine Staatsanwaltschaft, von daher war es politisch gesehen zu erwarten, dass er in diesem Fall nicht handelt. Aber man erhofft sich natürlich dadurch auch, dass die Staatsanwaltschaft zumindest intern angehalten wird, objektiv mit den Dingen umzugehen. Ich weiß nicht, ob das innerhalb der Landesjustizverwaltung erfolgt ist, aber einen erkennbaren Erfolg hat es auf jeden Fall nicht gehabt.
Nicht nur Stickelberger vertritt ja die Meinung, dass es nicht Aufgabe der Politik sei, sich hier einzumischen, auch andere Vertreter in der Regierungsfraktionen haben schon nach dem Muster argumentiert: Wir haben Mappus vorgeworfen, sich im Vorfeld des 30. 9. politisch eingemischt zu haben, nun werden auf keinen Fall wir politischen Druck ausüben. Wie beurteilen Sie dies?
Es hat natürlich schon eine gewisse Konsequenz, wenn man der ehemaligen Landesregierung vorwirft, sich eingemischt zu haben, dass man dies nicht selber tun will. Aber man muss einen Unterschied sehen: Die politische Einmischung wäre in diesem Fall durch Rechtsgrundlagen gestützt. Der Justizminister hat ein sogenanntes Substitutionsrecht nach Artikel 145 und 147, Absatz 2 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz, die Red.). Das bedeutet: er hätte die Staatsanwaltschaft auch rechtlich gesehen austauschen dürfen und können.
Zwei Monate vor der Landtagswahl hatte Stickelberger ja als SPD-Obmann im Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz einen Abschlussbericht mitgetragen, in dem SPD und Grüne erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einsatzes artikulierten. Der Rechtsexperte der Grünen-Landtagsfraktion, Hans-Ulrich Sckerl, auch er damals Obmann, hatte im Januar 2011 sogar offen die Abberufung Häußlers von den Ermittlungsverfahren zum Polizeieinsatz gefordert. Hatten Sie da, im Hinblick auf Ihre Klage gegen das Land vor dem Verwaltungsgericht, nach dem Regierungswechsel mehr erwartet?
Sogar das Verwaltungsgericht hatte im vergangenen Jahr das Land Baden-Württemberg aufgefordert, zu erklären, ob es an der bisherigen Rechtsauffassung zum Polizeieinsatz festhalte, nachdem der Untersuchungsausschuss getagt und ein Regierungswechsel stattgefunden habe. Die Antwort der neuen Landesregierung über ihre Anwälte kam dann Ende August 2011: Es bestehe keine Veranlassung, an der Rechtsauffassung zu rütteln. Hätte sie dagegen den Polizeieinsatz für rechtswidrig erklärt, hätte sich unsere Klage damit erledigt.
Wie beurteilen Sie, dass dies nicht geschehen ist?
Ich finde das sehr bedauerlich. Es hätte ein Zeichen an die Bevölkerung sein können, dass die neue Landesregierung nicht in dem gleichen Fahrwasser weiterschippert, wie es die CDU in ihrer langen Regierungszeit getan hat. Ich fürchte, dass das damit zusammenhängt, dass sich die Regierungsparteien in Baden-Württemberg gegenseitig beim Thema Stuttgart 21 neutralisieren, weil sie da grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen haben.
Innenminister Reinhold Gall erklärte ja am ersten Jahrestag des Schwarzen Donnerstags, dass er die Verantwortung für die Eskalation am 30. 9. allein bei den Demonstranten sehe.
Dabei handelt es sich meiner Meinung nach auch um eine Einmischung der Politik, wenn man rechtfertigt, was da geschehen ist! Und um ein Signal an die Polizei, auch weiterhin so vorzugehen. Aber Innenminister Gall ist ja noch weiter gegangen: Er hat diesen sogenannten Rahmenbefehl erlassen, der dafür sorgt, dass Demonstranten und Aktivisten, auch wenn es sich nur um Gebete im Schlossgarten handelt, vom Verfassungsschutz überwacht werden dürfen, dass ein Gefahrenbild erstellt wird. Das ist schon alles sehr merkwürdig, vorsichtig ausgedrückt.
Die Argumentation der Politik, sich nicht einmischen zu wollen, wäre demnach ad absurdum geführt?
Ja, so sehe ich das. Nun gibt es ja ohnehin schon betroffene Bürger, die sozusagen durch eine Einmischung der Politik am 30. September 2010 in eine Situation hineingeraten sind, die kaum noch kontrollierbar war und wo man meiner Meinung nach froh sein kann, dass es keine Toten gab. Das soll jetzt aufgearbeitet werden, und da bleibt die Politik nun zurück und sagt: Ihr seid zwar Opfer dieser politischen Beeinflussung geworden, aber helfen können wir euch nicht, weil wir uns ja nicht politisch engagieren wollen in dieser Justizsache. Was dabei vergessen wird: Es sind ja Tausende, die an jenem Tag betroffen waren, und die haben mittlerweile eine Staatsverdrossenheit entwickelt, diese Menschen vertrauen dem Staat nicht mehr – Tendenz stark steigend. Dass dieser Aspekt völlig ausgeblendet wird, nur um den Koalitionsfrieden zu bewahren, ist meiner Meinung nach sehr kurz gedacht.
Frank-Ulrich Mann, 48, ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Mann & Müller in Freiburg. Davor war er mehrere Jahre lang Leiter der Rechtsabteilung von Greenpeace Deutschland.