: Gesichter des Widerstands
Die Protestbewegung gegen S 21 hat viele kulturelle und politische Türen geöffnet, sie hat Freude geschenkt, Schmerz bereitet und manchen die große Liebe gebracht. Sie bedeutet für die einen Fortentwicklung und für andere ein Ankommen. Kontext stellt sechs Protagonisten vor, die den Widerstand geprägt haben
von Anna Hunger
Fritz Mielert Der Schwimm-Meister des
Er brachte den Stuttgartern bei, worüber der Rest der Bundesrepublik staunte: die Aktion. Das Anketten, das richtige Sitzen, Einbetonieren und dass die Polizei zwar nicht generell der Feind ist, aber auch nicht immer das letzte Wort haben muss. Fritz Mielert, der gewiefte Exsprecher und Exorganisator der aktiven Parkschützer, half an vorderster Front, die Stuttgarter zu Mutbürgern zu machen. „Wir wollten den Leuten das Schwimmen beibringen“, sagt er heute.
Fritz Mielert mag es, etwas auf die Beine zu stellen. An der Seite von Matthias von Herrmann, mit dem er schon die Stuttgarter Greenpeace-Gruppe aufgebaut hatte, koordinierte er Aktionen, gab massenhaft Interviews, hielt Reden, saß bei Maybrit Illner auf dem Sofa, sprach in Kameras, Mikrofone, diktierte in Blöcke, war zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar, sodass seine Freundin schon ganz stinkig war.
Fritz Mielert erinnert sich kaum an Namen, kaum an Gesichter, zu schnell zogen sie in der Hochzeit des Protests vorbei, oft konnte er seine Tage nur anhand von SMS und Twitterfeeds rekonstruieren. „Ich habe irgendwann nur noch funktioniert“, sagt er. Fritz Mielert war eine große Nummer in der aktivistischen Protestbewegung, so was wie der Chef, immer flankiert von vier, fünf Assistenten, die darauf achteten, dass er aß, und die ihm ab und an ein Blutdruckmessgerät an den Arm klemmten. Plötzlich verschwand er von der Bildfläche.
Er habe damals, sagt der 33-Jährige, nicht mehr daran geglaubt, das Projekt stoppen zu können. „Viele haben nach der Schlichtung und dem Stresstest weiter in der Protestwelt gelebt, ich fand mich zu jung dafür, dass es nicht mehr weitergehen soll.“ Und nach der Landtagswahl sei es gut gewesen. Ziel erreicht, das öffentliche Bild der Protestbewegung war schon am Kippen, und das Geld war alle, er hatte seinen Job als Hiwi beim Architekturprofessor Werner Sobek an der Uni Stuttgart gekündigt, weil er keine Zeit mehr dafür hatte und sein Chef ein strikter Befürworter von S 21 war.
Jetzt arbeitet er bei Campact und denkt sich Kampagnen aus. Zur Energiewende, zur Netzpolitik, zur Vorratsdatenspeicherung, zur Abgeordnetenkorruption. „Das sind Profis“, sagt er. „Ich habe den Eindruck, da kann man richtig was bewegen.“
Sabine SchmidtDie Mutter der Mahnwacheb
Am 17. Juni 2010 stand Sabine Schmidt mit einer kleinen Gruppe Demonstranten, einem Karton voller Flyer und einem Transparent vor dem Nordausgang des Stuttgarter Bahnhofs, um gegen den Abriss des Nordflügels zu protestieren. Irgendeiner besorgte einen Pavillon und ein paar Stühle mit blauen Plastiksitzen. „Ab sofort 24 Stunden Dauerpräsenz gegen S 21. Kommen Sie vorbei!“, hatte ein anderer mit Kreide auf die Straße geschrieben. „Ich dachte, das wird maximal eine Woche dauern, dann räumen sie uns, oder es gehen alle nach Hause“, sagt Sabine Schmidt.
Mittlerweile steht die Mahnwache seit zweieinhalb Jahren, aus dem Pavillon wurde ein festes Zelt, dauerbesetzt rund um die Uhr von rund 200 ehrenamtlichen Helfern, bei Regen, Sturm, sengender Hitze und Schneefall. Es ist die längste Mahnwache Deutschlands. Eine Institution. Sabine Schmidt ist deren Mutter, die Mahnwachen-Managerin, bei ihr laufen die Fäden zusammen. Sie führte Dienstpläne ein, erarbeitete Regeln, kümmerte sich um ordnungsgemäße Schichtwechsel, um Flyer und Buttons und Bücher und Souvenirs. Nie alleine, aber immer vorne dran. „Diese sechs mal drei Quadratmeter sind zu einem mittelständischen Unternehmen geworden“, sagt sie. Eines, das sogar einen Blumengarten hatte, als es noch am Nordausgang des Bahnhofs stand.
Sabine Schmidt ist eine von denen, die ihr Leben umgekrempelt haben, um gegen den Bahnhof zu protestieren. Sie engagiert sich seit fast 20 Jahren, war schon bei den ersten Montagsdemos dabei, als es noch fünfzig Leute waren und nicht Tausende. Sabine Schmidt kennt alle Emotionen, die mit diesem Protest verbunden sind: Freude, Trauer, Erschöpfung, Hilflosigkeit, Zorn, Wut und Hass. Der vor allem schlug ihr von manchen entgegen, die an der Mahnwache vorbeigingen. „Ihr gehört vergast“, riefen sie, oder „rückständiges Pack“, Hunderte, Tausende Male hat sie das gehört. Einmal kam ein kleiner Junge vorbei und spendete zwei Cent, weil er einen Anstecker haben wollte. „Das sind die Momente, die mich für all das Negative entschädigen“, sagt sie. „Das, und die Solidarität, die gewachsen ist“, sagt sie.
Ihr Vater fragte mal: „Und ihr steht immer noch im Zelt?“, aber Sabine Schmidt ist noch nicht müde geworden. Zwar kommt sie nicht mehr fünf Tage die Woche zu ihrem kleinen Protest-Unternehmen, sondern nur noch zweimal für ein paar Stunden, weil sich nach zweieinhalb Jahren auch im Ablauf Routine eingestellt hat, aber aufgegeben hat die 51-Jährige nie. Information, sagt sie, sei das Wichtigste.
Kürzlich wurde die Mahnwache für den Deutschen Engagementpreis nominiert. Im April ist sie umgezogen. Vom Nordausgang zum Arnulf-Klett-Platz. „Das ist der beste Ort, den wir kriegen konnten.“ Ans Aufhören hat Sabine Schmidt noch nie gedacht.
Matthias Kästner und Christine BöhlerDie Liebenden des Widerstands
Matthias Kästner und Christine Böhler sind die Protagonisten des Stuttgarter Widerstandsmärchens. Matthias Kästner erinnert sich noch an das warme Gefühl, als er die Bilder ansah, die Christine bei einer Aktion im Schlossgarten gemalt hatte. „Von Bäumen“, sagt er verträumt und erzählt, wie sehr ihn damals ihre Kreativität beeindruckte, ihre Leichtigkeit und ihr Einfallsreichtum.
Immer wieder sind sie sich über den Weg gelaufen. An der Mahnwache, in Blockaden, im Park, sie haben die gleichen Buttons getragen, sie hatten die gleichen Einwände gegen den Bahnhof, zwei Menschen, die nach zwei gescheiterten Beziehungen nicht mehr an die Liebe glaubten. Im August 2010 blockierten sie gemeinsam den Nordflügel, und als der Bagger um die Ecke kam und Matthias Kästner ganz nervös wurde, weil er den Aktionskonsens der Parkschützer vor all den Blockierern vorlesen sollte, legte Christine von hinten die Arme um ihn. „Es war wunderschön“, sagt er. Als der Bagger anfing, sich ins Gebäude zu fressen, saßen sie schon gemeinsam auf dem Bett in der Wohnung von Matthias Kästner, verstört, aufgewühlt, müde, traurig, und versprachen sich, dass sie gemeinsam alt werden wollen.
Zwei Wochen nach dem Abriss des Nordflügels verlobten sie sich im Schlossgarten am Widerstandsbaum von Walter Sittler, ein Jahr später heirateten sie unter der Blutbuche, unter der Guntrun Müller-Enßlin immer die Park-Gottesdienste abgehalten hatte, sie in Weiß, er im feinen Anzug, die 32-jährige Studentin und der 46-jährige Konzertveranstalter. Ein Klassikorchester spielte, es gab Sekt und Häppchen, es war ein Dankeschön, erzählen sie, an die Widerstandsbewegung, ohne die sie sich nicht kennengelernt hätten.
„Wir sind mit der Zeit aneinander gewachsen“, sagt Matthias Kästner. Den Protest haben sie fast ganz hinter sich gelassen, weil er keine Perspektive mehr bot. Also haben sie sich eine eigene geschaffen und sich ein kleines Häuschen im Zipfelbachtal bei Winnenden gekauft. „Ich bin glücklich“, sagt Matthias Kästner. „Angekommen.“
MichaDer Schützer der Bäume
Als die Aktivisten von Robin Wood 2010 das erste Baumhaus in eine der Platanen im Schlossgarten bauten, stand Micha unterm Baum und fragte, ob er vielleicht mit Werkzeug aushelfen könne. Er konnte. Und so wurde er zum Kletteraktivisten und damit Teil der längsten Dauerbesetzung in der Robin-Wood-Geschichte.
Micha, 37 Jahre alt, Sportkletterer, verteilte schon als 12-Jähriger für Greenpeace Flyer. Damals ging es um Wale. Dann kam Tschernobyl, und Mütter verboten ihren Kindern, im Sandkasten zu spielen, daran erinnert er sich noch gut. Als Jugendlicher saß er in einer Castor-Blockade und merkte zum ersten Mal, wie es ist, gegen eine Übermacht nichts ausrichten zu Akönnen. „Das alles hat mich angestachelt, mich einzusetzen gegen Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung“, sagt er. Im Protest gegen den Bahnhof sei es ihm nicht mal um die Bäumen gegangen, sagt er, sondern um die immense Geldverschwendung.
Am zweiten Baumhaus hat er mitgebaut, stieg anderthalb Jahre lang unzählige Male hinauf, um das Material zu kontrollieren, versorgte die Baumbesetzer vom Boden aus mit neuen Akkus für Funkgeräte, literweise Gemüsesuppe, neuen Schlafsäcken. Er stellte seine Wohnung zur Verfügung im Sommer zum Duschen, im Winter zum Aufwärmen. Er war jeden Tag im Park, manchmal schlief der Masseur und Physiotherapeut unter den Bäumen. Er war so oft dort, dass sein Arbeitskollege ihm die Zusammenarbeit aufkündigte. Und als der Schlossgarten letztlich geräumt wurde, das Baumhaus abgebaut, die Besetzer von den Bäumen gejagt waren, musste Micha sein Leben ganz neu sortieren. „Ich war ausgebrannt.“ Eine Woche hat er gebraucht, um sich zu regenerieren, und dann beschlossen, sich anderen wichtigen Themen zu widmen. „S21 ist ja nicht die einzige Sauerei.“ Palmöl gibt es noch. Für den Ausstieg aus der Atomindustrie lohnt es sich auch zu klettern.
Das Schöne an dieser Aktionsform sei das Außer-Reichweite-Sein. Da sitzen, wo nicht jeder hinkommt, Luft, Wind und Höhe zu spüren. „Die Angst zu überwinden“, sagt er. Außerdem sei es weit weniger gefährlich, als auf dem Boden zu blockieren. „Da gibt's wenigstens kein Pfefferspray.“
Tilo EmmertDer Dokumentar der Bewegung
Als Tilo Emmert am 30.9.2010 mitten im Schlossgarten-Krawall stand und nicht fassen konnte, was da gerade in seiner Heimatstadt passiert, gab es für ihn nur zwei Möglichkeiten: „Entweder abtauchen und Bahnhof Bahnhof sein lassen oder etwas dagegen tun.“ Der Informatiker entschied sich fürs Tun. Und weil er schon Wochen zuvor ohne nennenswerte Resonanz E-Mails an alle möglichen Redaktionen geschickt hatte mit der Bitte, doch über die ganze S-21-Chose zu berichten, wurde er einfach selbst Journalist.
Er bastelte seine Webcam vom heimischen PC, schraubte sie auf einen Stock und ging damit in den Schlossgarten, um zu filmen. Später lud er die Videos ins Internet. „Ich dachte, wenn ich genügend Leute finde, die auf einer Plattform diskutieren, kann ich selbst eine Öffentlichkeit schaffen.“ Journalismus sei immerhin die stärkste Waffe gegen Ungerechtigkeit, sogar eine, die im Grundgesetz verankert ist.
Tilo Emmert kaufte sich eine kleine Kamera und ein Stativ, filmte Demos und Aktionen, richtete einen Livestream auf seiner Internetseite ein und nannte ihn Cams21. Er zeigt ungeschnittenes Filmmaterial, roh und authentisch. Er fand Kollegen, die mitmachen wollten, sie druckten sich Cams21-Aufkleber und -Kärtchen, damit die Parkschützer aufhörten, sie zu beschimpfen und für Polizei, Bahn- oder Verfassungsschutzpersonal zu halten, und waren immer unterwegs, wenn viele Leute auf den Straßen waren.
Als Journalist nimmt er sich zurück – weil man nicht Reporter und Blockierer gleichzeitig sein kann, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren, ein ungeschriebenes Gesetz bei Cams21: Wer demonstriert, statt zu filmen, fliegt.
Anfangs war es schwer, weil die Polizei ihn nicht für voll nahm, ihn immer wieder abdrängte und rauswarf. Da half nur Frechheit, sich durchdrücken, wo sich eine Lücke auftat. Mittlerweile hat sich der kleine Sender etabliert, weil er der einzige ist, der zuverlässig von allen Aktionen des Protests berichtet. Nur manchmal bricht die Übertragung zusammen und manchmal genau dann, wenn es wirklich spannend wird.
Tilo Emmert hat Cams21 über die Jahre fortentwickelt, mit Fotografen, die Bilder einstellen, Bloggern, die Texte schreiben, eine freie Plattform von Menschen für Menschen, die etwas zu sagen haben. Er möchte einen Cams21-Verein gründen, durch Spenden Seminare finanzieren, um Volksreporter auszubilden. Er will den Bürgern beibringen, ihre eigene Presse zu sein, falls die etablierte wieder versagt.
Christine VoßmerbäumerSamariterin am Schwarzen Donnerstag
Sie stand am Schwarzen Donnerstag im Schlossgarten, als der Rentner Dietrich Wagner mit blutendem Gesicht und verletzten Augen, auf zwei Männer gestützt, auf sie zukam. Christine Voßmerbäumer war entsetzt. Ihm und Hunderten anderen Verletzten spülte sie das Tränengas von den Gesichtern, einem nach dem anderen, wie am Fließband. Sie hielt Hände, tropfte Augentropfen in wunde Augen, nahm immer mehr Verletzte auf, die in das notdürftig eingerichtete Lazarett kamen.
Die Stuttgarter Augenärztin war eigentlich nicht in den Schlossgarten gekommen, um Erste Hilfe zu leisten. Sie war dem Parkschützeralarm gefolgt, wollte sehen, was da los ist und dann wieder gehen, sie hatte noch Sprechstunde. „Ich kann es nicht fassen, was hier passiert ist“, wird sie am Abend sagen und danach bis spät in die Nacht Verletzte des Polizei-Einsatzes im Schlossgarten in ihrer Praxis behandeln. Sie wird am kommenden Tag mit Trillerpfeife auf der Großdemo mitlaufen. Auf ihrer Homepage wird sie ein Parkschützer-Banner installieren, Anti-S-21-Buttons an Bilder im Sprechzimmer ihrer Praxis klemmen, voller Empörung, Enttäuschung und Wut.
Christine Voßmerbäumer war das, was man eine Samariterin nennen könnte. Heute möchte sie das nicht mehr hören, nicht den Stempel der Heldin aufgedrückt bekommen. Das Banner ist von ihrer Homepage verschwunden, weil ihr die Aktionen der Parkschützer irgendwann nicht mehr gefielen. Sie geht nicht mehr auf Demos, seit die Bäume im Park gefällt wurden, weil sie die Trillerpfeifen und Menschenansammlungen nicht mehr erträgt, die sie immer wieder an den Vorfall im Schlossgarten erinnern. „Ich wollte nicht mehr, ich habe ja noch ein anderes Leben.“ Selbstschutz, sagt sie. Man könne sich in diesem Protest auflösen, da sei ein bisschen Pragmatismus nicht schlecht.
Aber sie habe viel gelernt, sagt sie. Wie Presse funktioniert, wie politische Prozesse ablaufen. Es sei kein optimistisches Bild. Der halb blinde Dietrich Wagner ist ihr als Patient geblieben, die beiden Oben-bleiben-Buttons auf den Bildern in ihrer Praxis auch und die Hoffnung: „Ich drücke schon weiter die Daumen, dass dieses S-21-Kartenhaus in sich zusammenfällt.“