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Archiv-Artikel

Denkmal für einen Ausgestoßenen

SCHICKSAL Ursula Krechel erzählt einen großen Roman über erzwungene Emigration und die schwierige Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland: „Landgericht“

Der Kampf ums Überleben weicht der traurigen Erkenntnis, allein zu sein mit seinen Erfahrungen

VON ULRICH RÜDENAUER

Und als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder“, schrieb Alfred Döblin über seine Rückkehr aus dem Exil, in das ihn die Nazis getrieben hatten. Döblin war wie viele andere Emigranten ein mehrfach Verwundeter: Auch wenn er sich als einen „Gepanzerten“ betrachtet hatte, konnte man nach zwölf Jahren Vertreibung bei ihm „die Reißzähne der Emigration, die diesen Panzer zerrissen haben“, deutlich sehen. Döblin hat einen kleinen Cameo-Auftritt in Ursula Krechels neuem Roman, „Landgericht“, und das ist selbstverständlich kein Zufall. Ein anderer zurückgekehrter Emigrant, Krechels Hauptfigur Richard Kornitzer, sieht den von Krankheiten gezeichneten Schriftsteller am Bahnhof in Mainz sitzen, Ausschau haltend nach Trägern, und auf gewisse Weise erkennt er in Döblin sich selbst. „Er kräht etwas, das Kornitzer nur so ungefähr versteht. Etwas wie: So helfen Sie doch. Aber niemand hilft ihm, und es ist auch unklar, wie man ihm grundsätzlich hätte helfen können.“

Wie man grundsätzlich jenen fünf Prozent Vertriebenen hätte helfen können, die nach dem Krieg zurückgekommen waren, das ist eine der Fragen, die Ursula Krechel beschäftigen. Schon in „Shanghai fern von wo“, dem letzten Roman der als Lyrikerin bekannt gewordenen Krechel, ging es um Schicksale von Emigranten, um Flucht und die Unmöglichkeit, sich mit all den demütigenden Erfahrungen im Gepäck eine neue Heimat zu schaffen. „Die Flüchtlinge trugen eine Vergangenheit in sich, die keinen Ort mehr fand“, hieß es darin, und für Richard Kornitzer gilt dieser Satz ebenso sehr.

Der Jude Kornitzer kehrt 1948 als Displaced Person nach zehnjähriger Odyssee aus Kuba zurück. Bereits 1933 wurde der promovierte Gerichtsassessor am Landgericht Berlin in den Ruhestand versetzt, die Gängeleien nahmen nach und nach zu. Dass er mit der „Arierin“ Claire, einer selbstbewussten Geschäftsfrau, verheiratet ist, schützt ihn zunächst noch – aber spätestens Ende der dreißiger Jahre wird die Situation immer bedrohlicher. Ihre beiden Kinder Georg und Selma schicken sie per Kindertransport nach England. Die Pläne, ihnen nachzufolgen, scheitern. Alle müssen sich in ihren jeweiligen Unterschlupfen durch die Kriegsjahre schlagen.

Kornitzer lernt Spanisch, erledigt Hilfsarbeiten für einen Anwalt und gerät in eine Emigrantenszene aus Kommunisten und Sozialisten. Ursula Krechel schildert diese Welt aus „transitorischen Existenzen“ äußerst eindringlich, anknüpfend an Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“. Dabei verflicht sie in „Landgericht“ Dokument und Fiktion so, dass man immer auch die Nähte sehen kann. Dieses Verfahren der Collage prägt wie schon ihren letzten Roman auch dieses Buch: Es zeigt die enorme Sachkundigkeit der Autorin, auch die Akribie, mit der sie ihre Leser über das Gefundene unterrichtet, um es mit dem Erfundenen kunstvoll und sorgfältig zu verbinden.

Kornitzer kehrt als gebrochener Mann zurück – als „Rumpfexistenz“. Und zugleich möchte er am Aufbau eines anderen Deutschland mitwirken. Zunächst scheinen ihm die Türen offen zu stehen. So wird er bald zum Landgerichtsdirektor in Mainz ernannt. Aber bereits die Farce, mit ehemaligen Mitläufern und jenen „furchtbaren Juristen“ des „Dritten Reichs“ zusammenarbeiten zu müssen, belastet ihn schwer. Die berechtigten Forderungen nach Wiedergutmachung werden nur schleppend oder gar nicht bearbeitet. Und die Zerrissenheit der Familie zeigt sich deutlich in der Entfremdung der in England aufgewachsenen Kinder, die nicht zu ihren Eltern zurückkehren wollen – ja noch nicht einmal ihre Eltern als solche mehr begreifen können. Man muss in diesen Passagen an W. G. Sebalds Roman „Austerlitz“ denken, der wie Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ einen Hallraum für Krechels „Landgericht“ schafft.

Der Kampf ums pure Überleben weicht der Verzweiflung. Und der traurigen Erkenntnis, allein zu sein mit seinen Erfahrungen. Kornitzer wird darüber zu einem Michael Kohlhaas, der Petition um Petition schreibt, Klage um Klage erhebt, schließlich aber nicht wie der Kleist’sche Fanatiker Amok läuft, sondern zusehends verbittert und krank wird, am Körper und an der Seele. Es ist gar nicht so unklar, wie man ihm und anderen Emigranten grundsätzlich hätte helfen können. Allerdings macht dieses Buch anschaulich, dass es nicht im Selbstverständnis der sich neu konstituierenden Republik lag, die Vertriebenen wieder aufzunehmen – vieles hätte dann hinterfragt werden müssen, was besser verhüllt blieb. So sind die Exilierten nicht nur einmal ausgestoßen worden, sondern nach ihrer Rückkehr ein zweites Mal.

Die 1947 in Trier geborene, in Berlin lebende Ursula Krechel arbeitet intensiv mit dem Archiv und hält uns ihre Fundstücke nicht vor. Die Klarheit des Faktischen wird in Literatur verwandelt: Das Zeithistorische reichert sie an mit Leben; jene Lücken, die von den Akten belassen oder erst aufgerissen werden, füllt Krechel einfühlsam und dezent. Das macht die Qualität von „Landgericht“ aus: Es wird eben nicht alles in Erzählung aufgelöst, nicht alles auf ein einziges Schicksal heruntergebrochen. Es ist gerade die große Leistung der Autorin, eine Geschichte zu erzählen und tausend andere Geschichten mitzubedenken. Deshalb muss sich dieser Roman immer wieder vom Einzelnen entfernen, wegzoomen von Claire und Richard, um sie dann wieder umso schärfer in den Blick nehmen zu können und so jenen ein Denkmal zu setzen, die in Geschichtsbüchern einen Auftritt nur als statistische Größe haben.

Ursula Krechel: „Landgericht“. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2012, 495 Seiten, 29,90 Euro