: Am Gleisdreieck ist Einkorn-Ernte
Gartenguerilleros haben auf ehemaligem Bahngelände alte Getreidesorten angepflanzt. Nur eine symbolische Aktion – aber sie macht Verbindungen von Natur und städtischer Bevölkerung sichtbar
VON WALTRAUD SCHWAB
Auf dem ehemaligen Bahngelände am Gleisdreieck wurden gestern Einkorn und Emmer geerntet. Mit einer Sichel bewehrt, ziehen Babette Berndt und Hartwig Berger vom Berliner Ökowerk aufs Feld. Viel Zeit braucht das SchnitterInnen-Duo nicht, um die 15 Quadratmeter Urgetreide zu mähen. In jeder Hand eine Garbe, posieren die Pioniere danach vor der Kamera.
Einkorn und Emmer sind uralte Getreidesorten. Sie stammen aus Wildgräsern, die sich einst in Ostanatolien ausbreiteten. „Mit ihrer gezielten Aussaat hat vor 10.000 Jahren die Landwirtschaft begonnen“, meint Berger, der bis 2001 für die Grünen im Abgeordnetenhaus saß.
Dass das Urgetreide im Frühjahr auf dem Gleisdreieckgelände ausgesät wurde, hat mehrere Gründe. Zum einen sind Einkorn und Emmer ungeheuer genügsam, was die Bodenqualität angeht, und sehr resistent gegen viele Schädlinge. Das müssen sie auf dieser Brache südlich des Potsdamer Platzes auch sein. Das Erdreich ist hier so verdichtet, dass die landwirtschaftlichen Pioniere es mit dem Pickel bearbeiten mussten. Außerdem ist er, weil altes Bahngelände, vermutlich mit Schwermetallen verseucht.
Seit Jahren schon ringen AnwohnerInnen des Gleisdreiecks darum, Teile des Geländes als interkulturellen Garten nutzen zu können. Etwa einen Hektar Land benötigen sie dafür. Zwar wurde eine Fläche in etwa dieser Größe gerade vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg mit einem dekorativen Zaun abgetrennt und das Gleisdreieck in diesem Frühjahr auch für die Allgemeinheit geöffnet. Trotzdem hängt das Projekt „interkultureller Garten“ weiterhin in der Luft.
Es werde argumentiert, dass Verwaltungsvorschriften eine Ausschreibung für die landschaftliche Gestaltung des Geländes unumgänglich machten, sagt Elisabeth Meyer-Renschhausen von der AG Gleisdreieck. Zum einen verschlinge ein Wettbewerb vermutlich viel von dem Geld, das für die Gestaltung des öffentlichen Teils vorhanden wäre. Zum anderen könne es sein, dass am Ende gar kein interkultureller Garten mehr vorgesehen sei. „Wenn man aber Parks für die Menschen macht, dann muss man ihnen Anreize zur Mitarbeit geben.“
So sieht das auch Hartwig Berger. „Viele Berliner Migranten kommen aus Ostanatolien, wo der Getreideanbau seine Wiege hat.“ Aus seiner Sicht macht ein Einkornfeld diese Verbindung sichtbar. Vorausgesetzt natürlich, sie wird mit einer Hinweistafel erläutert.
Die Urgetreide wurden ohne Genehmigung angebaut. Wie auch die anderen Kulturpflanzen, die hier sprießen. Auf einem Feld blühen Kleesorten, die eigentlich zum Düngen genutzt werden: Die Pflanzen sammeln Stickstoff, untergepflügt verbessern sie die Bodenqualität. Zudem sind zwischen den gelb blühenden Goldruten, die selbst im Schutt wachsen, kleine Inseln mit Kartoffeln, Kürbis und Karotten zu finden. Essen will die derzeit noch niemand.