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Archiv-Artikel

Zwei-Klassen-Zahnersatz

Patienten können kaum erkennen, ob der Zahnarzt sie adäquat behandelt oder nur verdienen will. Aus Angst vor Letzterem lassen viele lieber gar nichts machen

BERLIN taz ■ Normalerweise klagen die gesetzlichen Krankenkassen, dass sie zu hohe Kosten haben. Jetzt aber schlagen sie Alarm, weil sie zu wenig Geld ausgeben. „Beim Zahnersatz sind unsere Ausgaben im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent zurückgegangen“, sagt Rolf Stuppardt, Vorstandsvorsitzender der Innungskrankenkassen (IKK). Er fürchtet, dass die Versorgung der Patienten schlechter geworden ist, weil sie sich teure Zuzahlungen nicht leisten können. Ähnliche Bedenken äußern die Verbraucherzentrale und Innungen der Zahntechniker.

Nach Berechnungen der IKK geben die gesetzlichen Krankenkassen in diesem Jahr 2,1 Milliarden Euro für Zahnersatz aus. Im vergangenen Jahr waren es noch 4 Milliarden. Unter anderem deswegen wurde der 0,9-Prozent-Beitrag eingeführt, den die Versichten – ohne Gegenleistung der Arbeitgeber – seit dem 1. Juli monatlich zusätzlich zahlen müssen. „Die Versicherten zahlen also 4 Milliarden ein, bekommen aber nur Leistungen im Wert von 2,1 Milliarden Euro wieder“, so IKK-Chef Stuppardt.

Hintergrund ist eine komplizierte Veränderung bei der Vergütung der Zahnärzte, die diesen einen lang gehegten Wunsch erfüllt: Seit dem 1. Januar bekommen sie von den Kassen „befundorientierte Festzuschüsse“: Die Kassen beteiligen sich nicht mehr prozentual an den Kosten, sondern zahlen für jede Behandlungsform festgelegte Pauschalen. Bei einfachen Versorgungen wie Kronen sind die Kosten für den Patienten nahezu gleich geblieben. Bei vielen aber decken die Pauschalen einen geringeren Teil der Kosten ab als vorher. Die Pauschalen werden für eine festgelegte Anzahl von „Regelleistungen“ gezahlt. Alle anderen Behandlungen rechnet der Arzt teilweise oder ganz privat ab und der Patient zahlt drauf.

Teleskopkronen etwa sind nach Angaben von Michael Kleinebrinker, dem für Zahnärzte zuständigen Fachmann der IKK, bei einer bestimmten Diagnose die angemessene und beste Versorgung, und zwar bei jedem Zahn. Festzuschüsse aber gibt es nur noch für die Eckzähne. Teleskopkronen für die anderen Zähne können die Ärzte jetzt privat und damit teuer abrechnen.

Doch dazu kommt es kaum. Nach Angaben des Verbands Deutscher Zahntechniker-Innungen (VDZI) ist die Versorgung mit Teloskopkronen um 80 Prozent zurückgegangen. „Offensichtlich nimmt ein großer Teil der Bevölkerung davon Abstand, weil sie mehr draufzahlen muss“, sagt VDZI-Generalsekretär Walter Winkler. Insgesamt sei der Umsatz der Zahntechniker im ersten Halbjahr 2005 „um die Hälfte weggebrochen“. 8.000 der insgesamt 69.000 Zahntechniker verloren ihren Job. VDZI und die Kassen fordern nun, bei den Festzuschüssen nachzubessern.

Thomas Isenberg vom Bundesverband der Verbraucherzentralen (VZBV) fürchtet, dass mit der Neuregelung „der Zahnarzt immer mehr zum Kaufmann wird“. Und ein Kaufmann will vor allem viel verdienen. In die Verbraucherzentralen kommen laut Isenberg zunehmend Patienten, die unsicher sind, ob die teure Versorgung, die der Zahnarzt empfohlen hat, medizinisch sinnvoll ist – oder für den Arzt nur besonders lukrativ. Isenberg: „Das kann der Patient eben häufig nicht beurteilen.“

SABINE AM ORDE