: Erfurt ringt um Scheinnormalität
Dreieinhalb Jahre nach dem Amoklauf wird das Erfurter Gutenberg-Gymnasium wiedereröffnet. Doch die Spuren des Massakers sind nur äußerlich beseitigt
DRESDEN taz ■ Wenn heute Bundeskanzler Gerhard Schröder das Erfurter Gutenberg-Gymnasium besucht, ist das schon der dritte medienträchtige Termin an diesem Ort im August. Der Bauübergabe folgte letzten Donnerstag der erste Schultag in Thüringen und damit der Wiedereinzug von 574 Schülern in das sanierte Gebäude. Heute wird der Jugendstil-Bau mit 800 geladenen Gästen offiziell wiedereröffnet. Die meisten von ihnen sind Eltern und Schüler.
Das Schulhaus ist international bekannt, seit am 26. April 2002 der ehemalige Schüler Robert Steinhäuser in einem Amoklauf 16 Menschen und sich selbst tötete. Was genau geschah, ist noch immer unklar. Ein im April 2004 vorgestellter Abschlussbericht der Thüringer Landesregierung ließ viele Fragen unbeantwortet. Während über die Motive des von der Schule verwiesenen Mörders relativ viel bekannt ist, blieb offen, wie genau er die Waffen beschaffte und wie seine Verbindungen zu einem Schützenverein waren.
Zudem äußerte die Schriftstellerin Ines Geipel in einem Buch Zweifel an den offiziellen Darstellungen.
Die Schüler wurden seit der Tat in einem Ausweichquartier am Stadtrand unterrichtet. 33 Jugendliche und neun Lehrer befinden sich noch immer in psychologischer Behandlung. Das neu zusammengestellte Lehrerkollegium sei erst dabei, sich zu finden, sagt Schulleiterin Christiane Alt.
Für die Sanierung des Gutenberg-Gymnasiums stellte der Bund spontan zehn Millionen Euro zur Verfügung. Der Einweihungstermin heute dürfte Schröder im Wahlkampf deshalb nicht ungelegen kommen. Äußerlich ist der Prachtbau mit den leuchtend roten Dächern schon länger wiederhergestellt.
Ein Vergessen ist damit jedoch nicht verbunden. Zwar sind Einschüsse und andere Spuren des Massakers beseitigt. Neben dem Eingang erinnert jedoch eine Tafel an die zwölf Lehrer, die Sekretärin, die beiden Schüler und den Polizisten, die erschossen wurden. Im Dachgeschoss ist ein „Raum der Stille“ eingerichtet worden. Und in der Kunsthalle Erfurt eröffnet morgen eine Ausstellung „Lebens(t)räume“, die unter dem Eindruck des Massakers Einblick in die Wünsche junger Menschen gibt. Die Schüler selbst sagten, die drei Jahre in der Ausweichschule hätten zwar einen gewissen Abstand, aber keine Verdrängung der Geschehnisse bewirkt. Schulleiterin Christiane Alt sprach von „ganz profanen Fragen wie Schulbuchkauf und Klassenzuteilung“, die am ersten Schultag eine Rolle gespielt hätten. „Der 26. April wird aber immer wieder thematisiert.“
Die Erfurter Traum-Therapeutin Alina Wilms, die die psychologische Betreuung der Schüler geleitet hatte, warnte, das Gebäude könne Ängste freisetzen. Einige Schüler hätten die Schule gewechselt, um nicht zurückkehren zu müssen. „Es ist ein Trugschluss zu glauben, die Normalität sei mit dem Umbau zurückzuholen.“
Harald Döring, Vorsitzender des Fördervereins des Gymnasiums, nannte es aber eine „bemerkenswerte Leistung“, dass die Gemeinschaft von Schülern, Eltern und Lehrern nach der Bluttat nicht zerbrochen sei. So ist die Schule weiterhin beliebt, die Zahl von Bewerbern ist hoch. In einem Punkt seien sich Schüler und Lehrer einig, sagte Christiane Alt: „Wir hoffen inständig, dass nach dem Besuch des Kanzlers ab Dienstag Ruhe einzieht“.
MICHAEL BARTSCH