: Kunst in der Krise
FREIES THEATER Zum siebten Mal präsentiert das Festival „150% Made in Hamburg“ wie viel Reizvolles die fraktale Theaterlandschaft der versprengten Off-Kultur zu bieten hat – trotz zunehmend schwieriger werdender Arbeits- und Lebensbedingungen
VON ROBERT MATTHIES
Hinterlassen hat sie am Ende zwar ein reiches literarisches Erbe. Mit dem Geld aber hatte Franziska Gräfin zu Reventlow zeitlebens ihre liebe Mühe. Dem stereotypen Leben als Hausfrau, Gattin und Mutter inmitten aristokratisch-großbürgerlicher Militärtrunkenheit und geld- und fortschrittsgläubigen wilhelminischen Gründergeistes und kurz darauf den fürsorglichen Armen ihres Ehemannes in die Schwabinger Bohème entflohen, führte die „Skandalgräfin“ ein – nicht zuletzt ihrer Geringschätzung der Sparsamkeit wegen – von andauernder finanzieller Not gezeichnetes, aber eigenständiges Leben unter Malern, Dichtern, Philosophen und Musikern.
Rechenanfälle
Abgerechnet hat sie mit ihrer lebenslangen erhitzten wie enttäuschenden Liaison mit dem Geld 1916, kurz nach dem Bankrott ihrer Hausbank, im autobiografisch gefärbten und „meinen Gläubigern zugeeignet[en]“ Briefroman „Der Geldkomplex“. Darin ist die Erzählerin auf Anraten eines freudianischen Psychiaters in einer „Nervenheilanstalt, oder sagen wir lieber Sanatorium, das klingt immerhin noch etwas milder“, gelandet. Um ihren, so der Freudianer, „Geldkomplex“ – ihre andauernden „Rechenanfälle“ und ihre „qualvolle Beziehung“ zum Wesen Geld – zu kurieren.
Doch die Patientin selbst versteht sich gar nicht als krank: Ursache für ihre Probleme sei kein „Geldkomplex“ – sondern ganz schlicht Geldmangel. Und so kommt die Heilung der Uneinsichtigen nicht wirklich voran. Dafür entwickelt sich der Aufenthalt unter lauter gescheiterten Existenzen zur immer verrückter werdenden Angelegenheit. Und am Ende steht die Einsicht, dass auch das Dasein „im Zeichen des Bankerotts“ durchaus seinen Charme hat: „So lässt sich ganz gut leben.“
Freier Fall
Zumindest ein wenig Trost dürfte der Gräfin Satire auf die wahnsinnige Psychologie des Geldes, die Pheline Roggan, Denis Moschitto und Thomas Ebermann am Sonntagabend im Rahmen des Off-Theater-Festivals „150 % Made in Hamburg“ als szenische Lesung präsentieren, also all jenen freien Theaterschaffenden spenden, denen es heute ganz ähnlich geht. Konnte man besorgten Erziehungsberechtigten noch in den 70ern mit Statistiken kommen, wenn die Angst um die brotlose Kunst des Nachwuchses sich Bahn brach, befindet sich die freie Bühnenkunst seitdem finanziell im freien Fall.
Gerade mal fünf Euro pro Stunde und kaum mehr als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens lässt sich mit freiem Theater und Tanz heute noch erwirtschaften. Vater Staat ist die allenthalben so gelobte kulturelle Innovation abseits städtischer und staatlicher Bühnen nur einen Griff in die Portokasse wert. Gerade mal 0,01 Prozent des Haushaltes gibt Hamburg dafür aus. Und während rund eine Million Quadratmeter Büro- und Gewerbefläche in der Stadt leer stehen, hat mehr als die Hälfte der freien Tanz- und Theaterschaffenden nicht mal Zugriff auf Probe- oder auch nur Arbeitsräume.
Freie Landschaft
Wie viel Reizvolles – und Förderungswürdiges – die fraktale Theaterlandschaft der versprengten Off-Kultur abseits der Geldströme trotz chronischer Unterfinanzierung indes zu bieten hat, macht „150% made in Hamburg“ ab heute zum siebten Mal deutlich. Elf Tage lang sind insgesamt 17 aus 100 Bewerbungen ausgewählte Inszenierungen zu sehen, die exemplarisch für das freie Theater in Hamburg und im deutschsprachigen Raum stehen. Zu sehen sind an mehr als zehn Spielorten acht Wiederaufnahmen erfolgreicher Produktionen, sechs Uraufführungen, eine deutsche Erstaufführung und zwei Hamburg-Premieren.
Erstmals werden die Stücke dabei dieses Jahr in vier Sektionen präsentiert. Das „Panorama“ wirft mit sechs Inszenierungen Hamburger Theatermacher einen Blick in die freie Theaterlandschaft der Stadt, das „Gastspiel“ zeigt drei Produktionen aus Berlin, München und Zürich, der „Debutantes Ballroom“ unterstützt drei freie Nachwuchs-Projekte finanziell, künstlerisch und organisatorisch, zu gewinnen gibt es jeweils einen Publikumspreis. Im „Wettbewerb“ schließlich sind vier Hamburger Inszenierungen zu sehen, die die Auswahljury besonders überzeugt haben. Am Ende winkt ein Preisgeld von 2.500 Euro.
Wie leben?
Neu ist in diesem Jahr auch das Festivalzentrum in der Altonaer Großen Bergstraße, das vor allem als Anlaufpunkt für den Austausch und die Vernetzung freier Theaterschaffender untereinander und mit dem Publikum dienen soll. Diskutiert wird hier unter anderem über Perspektiven für die freie Szene und wie die drei bestehenden Hamburger Festivals 150 % Made in Hamburg, Kaltstart und Dancekiosk in Zukunft gestärkt werden können. Zum Thema wird hier auch ganz allgemein das prekäre Leben inmitten von Krisen: Sind freie Künstler und Kreative die Vorhut einer Arbeitswelt, die zukünftig immer mehr Menschen betreffen wird? Und wollen wir so leben?
Einen Blick in diese Arbeitswelt kann man dort schon mal in der Ausstellung „Brenne und sei dankbar“ werfen, in der das Münchner Duo Testset auf der Grundlage der Studie „Report: Darstellende Künste“ mit Plakaten das „Prinzip Theater“ – auch jenseits der Bühne – untersucht. Auf einem von ihnen etwa steht nicht mehr als eine ernüchternde Zahl: 427,50 Euro, so viel darf ein freier Theaterschaffender nach 45 Versicherungsjahren als Rente erwarten. Das reicht in einer Großstadt schon heute nicht mal für die Miete.
Auseinanderklaffen
Das Auseinanderklaffen nicht nur ökonomischer Welten ist denn auch Thema einer ganzen Reihe der Produktionen selbst. „Brazilification“ des Zürcher Trios kriese/walther/grissmer etwa macht am Beispiel Brasiliens als autobiografische, performative und politische Suchbewegung die Auseinandersetzung mit sozialer Ungerechtigkeit und Möglichkeiten zur Intervention zum Thema. Die „Theaterbewegung“ „City Swap“ des Hamburger Duos „Die Azubis“ macht sich mit der Frage „Wie will ich leben?“ in zwei ganz unterschiedliche Welten auf: nach St. Pauli und in die Hafencity. Gero Vierhuffs „Hundstage“ nach Motiven des gleichnamigen Films von Sidney Lumet schließlich dreht sich um Geld, das nicht da ist: Ein Banküberfall geht schief, weil nichts mehr im Tresor ist und die Polizei schon vor der Tür steht. Und plötzlich steht die Existenzangst, die man doch besiegen wollte, noch unerbittlicher vor einem.
■ Hamburg: Do, 4. 10. bis So, 14. 10., diverse Orte, www.festival150prozent.de