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Archiv-Artikel

Die Kraft der Überflüssigen

Political Studies (IX): Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist längst aufgegeben, der Kampf gegen die Arbeitslosen hat gerade erst begonnen. Ein Versuch, die eigenen Hartz-IV-Träume zu verstehen

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

VON ANNETT GRÖSCHNER

Vor einigen Tagen bin ich im Traum einer Frau begegnet, der ein Chip in den Oberarm implantiert war. Er hatte die Größe und Gestalt eines Druckknopfes.

Im ersten Moment hielt ich das für eine besonders ausgefallene Art von Schmuck. Aber die Frau erzählte, das sei ein im Volksmund Hartz-IV-Chip genanntes Speichermedium. Es sei ihr von der Arbeitsagentur in den Oberarmknochen gebohrt worden. Sie sei für ein Versuchsprogramm ausgewählt worden, gegen das Widerstand mit sofortiger Streichung der Unterstützung bestraft worden wäre. Sämtliche Zuwendungen vom Staat, die sie im Laufe ihrer Lebenszeit bekomme, würden auf diesem Chip gespeichert. Zukünftig reiche ein Scanner und der Fallmanager sei im Bilde. Der Chip lasse sich sogar per Funk ablesen, so dass ein Besuch der Arbeitsagentur nur noch einmal im Jahr notwendig sei. Wenn die Agentur, die von Zeit zu Zeit Stichproben mache, keine Bewegung mehr registriere, gebe es allerdings eine frühere Vorladung. Nicht dass ein Toter noch im Grab Arbeitslosenunterstützung bekäme. Andererseits sollte man aber auch nicht zu mobil sein, denn der Chip erlaube einem ohne die Einreichung von Urlaub keine Ausflüge außerhalb des ABC-Bereiches der Berliner Verkehrsbetriebe.

Ich habe mich ernsthaft gefragt, warum ich so etwas träume. Ich bin von Hartz IV nicht unmittelbar betroffen. Aber offensichtlich verfängt das Drohpotential, das die Arbeitsmarktreform gegen die, die noch Erwerbsarbeit haben, aufbaut. Auch bei mir, wenn auch nur im Unterbewusstsein. Vielleicht war es die Nacht, nachdem eine Freundin mir erzählt hatte, welche Auswirkungen Hartz IV auf ihre Familie hat. Dass sie eigentlich gezwungen sei, ihre studierende Tochter aus der Wohnung zu werfen, weil die Miete ihres Zimmers vom Amt nicht übernommen werde, andererseits aber ihr Kindergeld auf das Familieneinkommen angerechnet wird. So wird man die Kinder auch los.

Man könnte hier unendlich lange Geschichten erzählen, über unverheiratete Paare, die sich trennen, damit der arbeitslose Partner krankenversichert ist; über Frauen, die zum ersten Mal in ihrem Leben voll und ganz von ihrem Ehemann abhängig sind und das nicht verkraften; von Kindern, die die Ausbildung abbrechen müssen, weil sie Geld kostet, das das Amt nicht erstattet und die Eltern nicht bezahlen können, weil die Ersparnisse aufgebraucht sind; von Partnern, die in der Wohnung ein Wegerecht einführen, damit das Amt die Wohnung nicht betreten darf, um in der Wäsche zu schnüffeln. Es sind traurige und mutlose, aber auch pragmatische und listige Geschichten. Arbeitslosigkeit ist vom Rand in die Mitte der Gesellschaft gewandert und hat sich dort festgesetzt.

Wenn Gerhard Schröder in den letzten Wochen gefragt wurde, woran seine Politik denn nun gescheitert sei, hat er immer reagiert wie Jan Ullrich. Das Wetter war schlecht, das Gewicht zu hoch, der Gegner zu stark, ein leichter Unfall oder eine Erkältung haben den Erfolg verhindert.

Schon Machiavelli, dessen Werk ja Politikern zu Geburtstagen immer wieder gern geschenkt wird, hat geschrieben, dass jeder, der ein Land reformieren will, Sorgfalt anwenden sollte. An dieser Sorgfalt hat es bei der Agenda 2010 gefehlt.

Die meisten Bürger dieses Landes sind sehr wohl bereit, Reformen zu akzeptieren, die auch sie selbst betreffen. Was die Betroffenen so wütend und der Politik gegenüber zunehmend resistent macht, ist, dass das Herzstück der Agenda 2010 auf einer Lüge aufgebaut ist, der nämlich, dass es in absehbarer Zeit wieder eine Vollbeschäftigung geben wird, wenn die Arbeitslosen sich einfach nur mehr anstrengen und ihre Bedürfnisse nach unten schrauben.

Der Kampf gegen die Arbeitslosen hat sich gegen alle Ankündigungen verschärft, weil der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit längst aufgegeben ist und national wahrscheinlich sowieso nicht zu gewinnen ist. Vor drei Jahren, ein Manager namens Hartz war gerade vor die Kameras getreten und hatte mit Hilfe der nach ihm benannten Reform die Halbierung der Arbeitslosigkeit angekündigt, schrieb der Theoretiker der „Glücklichen Arbeitslosen“, Guillaume Paoli: „Auch die größten Kritiker mussten zugeben, dass es illusionär sei, mit der Beseitigung der Arbeitslosigkeit zu rechnen. Was ist nun von einem Papier zu halten, in dessen Zusammenfassung, neudeutsch summary genannt, der Satz auftaucht: Arbeitsmarktpolitik unterstützt die Erreichung des Vollbeschäftigungsziels im koordinierten Zusammenspiel mit Geld-, Finanz-, Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialpolitik?“

Klangen in buntes Bonbonpapier eingewickelte Begriffe wie JobCenter, BridgeSystem, Job Floater, Ich-AG, KompetenzCenter Controlling und Benchmarking nicht schon wegen ihrer innovativen Schreibweise ungeheuer modern und zukunftsweisend?

Hat andererseits jemand geahnt, dass drei Jahre später auf der Berlin-Friedrichshainer Wühlischstraße neben einer italienischen Pizzeria, die Hartz-IV-Beratung anbietet, ein Aufsteller einer Boulevardzeitung mit dem Aufmacher „Stürzt Hartz über einen Sex-Skandal“ stehen würde? Die Häme darüber hat leider auch keinen einzigen Arbeitsplatz geschaffen.

Schuld daran, dass man seinem Wahlvolk nicht sagen könne, dass es mit der Vollbeschäftigung vorbei sei, sagte mir kürzlich ein Politiker, sei das Fernsehen, das einem nicht erlaube, seine Thesen in mehr als zwanzig Sekunden zu formulieren. Es sei reiner Selbstmord und würde zu einem Aufschrei führen, wenn man es trotzdem versuche. Dabei kann die Regierung der Existenz des Fernsehens dankbar sein, wo würden all die Arbeitslosen sich ohne es aufhalten? In den Zwanzigerjahren fand die Arbeitslosigkeit auf der Straße statt. In langen Schlangen standen Arbeitssuchende vor den Stempelstellen. Prügeleien zwischen Rechten und Linken begannen meist am Ende der Schlange und pflanzten sich zu Bewegungen fort.

Regierende jedweder Couleur werden sich hüten, den von staatlicher Alimentierung Abhängigen die Fernsehgebühren nicht zu erstatten. Fernsehen ist Opium fürs Volk, nicht erst seit der Fusion von Bild und Sat.1. Ein Bürgergeld, Wunsch vieler Soziologen, wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Dazu bedürfte es anderer Politiker und Lobbyisten. Denn dass einer vom Staat Geld kriegen soll, ohne nicht wenigstens ein bisschen auf den Knien gerutscht zu sein, ist nicht vorstellbar. Stattdessen wird der Arbeitslose gezwungen, am laufenden Band Bewerbungen auf nicht vorhandene Stellen zu schreiben.

Für einen inzwischen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung gilt, auch wenn das Politiker naturgemäß anders sehen: Ihre Würde wird mit jedem Gang zur Arbeitsagentur angetastet – meist schon in den elenden Wartefluren, die ihnen nichts mehr versprechen.

1-Euro-Jobs unterscheiden sich von ABM-Stellen nur durch die miesere Bezahlung. Gibt es noch die eher spaßige Variante, dass in der Westernstadt Templin mit Arbeitsagenturgeldern Angestellte sich als Bankräuber verdingten, so ist die Finanzierung einer Bürgerwehr auf 1-Euro-Basis in einer anderen brandenburgischen Stadt doch eher ein Alarmsignal. Es gibt längst Gegenden, wo Politik nicht mehr hinreicht, da kommt im Wahlkampf auch keine Kanzlerkandidatin mit orangefarbenem Angietross, kein auf seriös umgespritztes Guidomobil und kein grüner Fischerchor vorbei, dort sind die Menschen selbst als Konsumenten nicht mehr zu gebrauchen. Sie sind die Überflüssigen, die Soziologen sprechen von „nicht mehr verwertungsgeeigneten Personen in verfestigenden sozialen Randlagen“, wo das öffentliche Geld im günstigsten Falle für den Rückbau reicht. Wer etwas will, muss weggehen. Werden die verödeten Gebiete in absehbarer Zeit unregierbar sein und somit für Experimente offen stehen oder wird es vereinzelte Wehrdörfer geben, die von Windparks flankiert werden und keine Parteien, sondern nur noch Gegner kennen?

Eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit abhanden gekommen ist, zweifelt an ihrer Identität und mit ihr die Mitglieder derselben. Das hat im letzten Sommer kurzzeitig zu einer Eruption geführt, als plötzlich, vom Osten ausgehend, eine Massenbewegung, die ohne nennenswerte Führung auskam, sich auf den Plätzen versammelte, um gegen die Arbeitsmarktreform und somit auch gegen die Regierung zu demonstrieren. Die Bewegung ist so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war.

Auch wenn es dann wieder still wurde auf den Straßen, blieb doch eine permanente seismografische Erschütterung zurück, die der Regierung zu schaffen machte. Schröders Begründung für Neuwahlen, er könne sich auf seine Parteilinke nicht mehr verlassen, ist ein Ergebnis dieses Rumorens. Den antikapitalistischen Vorstoß Münteferings hat man der SPD dann nicht mehr abgenommen. Sie hat ja noch nicht einmal den Versuch gemacht zu verhindern, dass Unternehmen, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, das von der Steuer absetzen können.

Aus dem Blickwinkel der Überflüssigen sind die Grünen eine Partei für Besserverdienende mit schlechtem Gewissen. Nachhaltigkeit muss man sich erst einmal leisten können. Wer von der Hand in den Mund lebt, nimmt den billigsten Joghurt, und der ist nicht unbedingt gesund.

Allerdings traut das Wahlvolk Merkel und Westerwelle auch nicht mehr zu als Schröder und Fischer. Die anfängliche Annahme, die Wähler würden Rot-Grün strafen, indem sie eine schwarz-gelbe Regierung durchwinken, hat sich inzwischen zu einem Umfragepatt zwischen den Parteien entwickelt. Man darf gespannt sein, wie es ausgeht und welches Rezept gegen die Arbeitslosigkeit die nächste Regierung preisen wird.