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Archiv-Artikel

WIR LASSEN LESENVorwärts in die Vergangenheit

Einst sollte er den deutschen Fußball retten. Dann wurde Sebastian Deisler krank

Wir schreiben das Jahr 2001. Die Sonne scheint, der heraufziehende Frühling macht sich bemerkbar, doch einer bekommt davon nichts mit. Die Jalousien hat er heruntergelassen, sitzt am helllichten Tag in seiner dunklen Wohnung in Westberlin. Seine Gedanken befinden sich in einer Endlosschleife. Sie kreisen um das, was er in so kurzer Zeit erreicht hat, worum ihn nicht wenige beneiden, was ihn jedoch nicht glücklich macht. Später einmal wird er über jene Zeit sagen, dass er damals in einer Parallelwelt gelebt habe. „Ich war bekannt in ganz Deutschland, war oben angekommen und vor der Tür stand ein Mercedes CLK. Aber das alles hat mich nicht glücklich gemacht. Ich konnte nicht mehr fühlen, nicht mehr weinen und nicht mehr lachen. Ich war todunglücklich.“

Er – das ist Sebastian Deisler. Gerade 21 Jahre jung, vermeintlich am Beginn einer Bilderbuchkarriere als Fußballer stehend. Das war 2001. Heute acht Jahre später, scheint das eine Ewigkeit her zu sein. Am 16. Januar 2007 bereits beendete Deisler, gerade 27 geworden, seine Laufbahn. Der Hauptgrund dafür war sein psychisches Leiden. 2003 hatte er sich zum ersten Mal wegen Depressionen in Behandlung begeben. Nach seinem Rücktritt zog er sich komplett aus der Öffentlichkeit zurück. Nun ist ein Buch über sein Leben erschienen.

Der Journalist Michael Rosentritt, der Deisler seit seinen Berliner Jahren begleitet und über die Jahre so etwas wie ein Freund geworden ist, hat in enger Zusammenarbeit mit dem Exprofi dessen Geschichte aufgeschrieben. „Sebastian Deisler – Zurück ins Leben. Die Geschichte eines Fußballspielers“ erzählt akribisch genau vom kometenhaften Aufstieg und dem tiefen Fall Deislers. Rosentritt beschreibt die Kindheitsjahre des Jungen im beschaulichen Lörrach, von dem Spaß, den er früh am Fußballspielen entdeckt und von den ersten Schatten, die das Idyll überziehen. Er erzählt von dem Umzug ins Jugendinternat von Borussia Mönchengladbach mit 15, dem Debüt als Nationalspieler mit 20 und schließlich dem Wechsel zu Bayern München zwei Jahre später. Unterbrochen wird diese dokumentarische Vergangenheitsbewältigung lediglich von eingeschobenen Sequenzen aus der Entstehungszeit des Buches. So notiert Rosentritt beispielsweise: „… vieles an ihm wirkt, als wollte er sich entschuldigen und Erklärungen liefern oder umgekehrt. Er wirkt beladen, verhärmt, verbittert.“

Der schmächtige, in sich zurückgezogene Deisler zog früh hinaus in die große weite Fußballwelt. Weit weg vom Elternhaus und „ohne Fundament“, wie er sich später einmal ausdrücken wird, prasselt vieles auf ihn ein. Von den Medien wird er frühzeitig als künftiger Retter des deutschen Fußballs auserkoren. Rosentritt gibt Deislers Schilderungen viel Raum, so entstehen Anhaltspunkte für sein Scheitern. Es wäre nur zu leicht, das introvertierte Wesen Deislers oder die Hetze nach Bekanntwerden seines Wechsels von Berlin nach München 2002 für seinen Zusammenbruch verantwortlich zu machen. Den einen Grund, weshalb alles so kam wie es kommen musste, gibt es jedoch nicht. Ihn kann auch Michael Rosentritt auf seinen 240 Seiten nicht finden, er sucht ihn auch gar nicht. Die Frage, ob Deisler in einem anderen Beruf auch krank geworden wäre, kann niemand beantworten.

Zu den stärksten Momenten des Buches zählen jene, in denen der Autor bisher Unbekanntes preisgibt. Als Deisler bereits in stationärer Behandlung ist, ergehen sich die Medien in wilden Spekulationen über mysteriöse Freunde und angebliche Kontakte zu einer Sekte. Und recherchieren exakt: „Genau in dieser Zeit erreicht ihn ein Journalist der Bild-Zeitung. Deisler sagt nur ‚Guten Tag‘ und ‚Auf Wiederhören‘. Dem Kollegen der Bild-Zeitung reicht das, um am nächsten Tag ein großes Interview mit Deisler abzudrucken, das sich bei Aussagen Deislers dem Tagesspiegel gegenüber bedient.“

Seit Erscheinen des Buches wird Sebastian Deisler nun vorgehalten, er sei verbittert und verkenne die Realität, wenn er von „Schmerzensgeld“ spricht, das er in Form eines Millionengehalts für sein Leiden erhalten habe. Doch „Zurück ins Leben“ ist wohl Teil von Deislers Heilungsprozess. Der bittere Unterton zeigt vor allem, dass die Wunden immer noch frisch sind. Und seine verschobene Realitätswahrnehmung kann auch die Folge seiner Depressionen sein. Ob Sebastian Deisler einen Weg zurück ins Leben findet, das wird sich, trotz des Titels dieses Buches, noch zeigen müssen. MILAN JÄGER