: Homosexualität wieder tabuisiert
Ein EU-Handbuch für Pädagogen zum Thema Homosexualität soll unter der neuen Landesregierung nur noch unter Vorbehalten verbreitet werden. Der Lesben- und Schwulenverband NRW fordert die völlige Freigabe des Leitfadens
DÜSSELDORF taz ■ Die Landesregierung hat sich jetzt offiziell von der „Homo-Broschüre“ distanziert, die von ihrer Vorgängerregierung und der EU erarbeitet wurde. Der Leitfaden für Lehrer und Pädagogen, der Hilfe im Umgang mit dem Thema Homosexualität geben soll, darf in Nordrhein-Westfalen nur noch mit einem Vorwort des Generationenministeriums (CDU) verbreitet werden.
Vor einigen Wochen hatte dasselbe eine weitere Verbreitung der Broschüre gestoppt und den Zugang zur Online-Version gesperrt. Auslöser waren die Bedenken der neuen Schulministerin Barbara Sommer (auch CDU), das Handbuch in der Schule weiter zu verwenden. Ihr Sprecher begründete diese Vorbehalte gegenüber der BILD mit den Worten: „Wir dürfen unseren Kindern nicht das Gefühl geben, dass schwul oder lesbisch sein zur Pflicht wird.“ Dem schwulen Online-Magazin „Queer“ sagte er, die „Erblast“ der Vorgängerregierung solle nicht als „Werbung für bestimmte Lebensformen“ benutzt werden.
Das Ziel, Benachteiligungen von Menschen anderer sexueller Orientierung entgegen zu wirken, teile die neue Landesregierung zwar uneingeschränkt, heißt es jetzt im Vorwort. Darin enthaltene Wertungen zum Verhältnis von Homo- und Heterosexualität, welche die Landesregierung auf die Beteiligung von Schwulen- und Lesbenorganisationen zurückführt, lehne sie jedoch ab: „Diese Wertungen teilt die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen nicht in jedem Fall.“ Wer sich das Vorwort zu Gemüte führen will, kann im Internet nicht darauf zugreifen. Und den Versand der Papierversion übernimmt künftig das schwul-lesbische SchLAU NRW Aufklärungsprojekt – unter Rot-Grün lief die Verbreitung direkt über das Sozialministerium.
Der Landesverband der Schwulen und Lesben in NRW begrüßt zwar die Wiederfreigabe des Handbuchs, verurteilt aber die Distanzierung der Landesregierung. „Wir sind mehr als erstaunt über dieses vollkommen unübliche Vorgehen zu einem europäisch geförderten und wissenschaftlich evaluierten Projekt“, sagt Landessprecher Arnulf Sensenbrenner. „Wir fordern die Landesregierung auf, das Ansehen Nordrhein-Westfalen in Europa nicht zu schädigen und diese Beschränkungen unverzüglich zurückzuziehen.“ Welche Wertungen die Landesregierung nicht teile, hätte sie nicht genannt. „Die bisherigen Äußerungen lassen eher darauf schließen, dass man das Thema Homosexualität in Schule und Beratung von Jugendlichen wieder verschweigen und tabuisieren möchte“, so Sensenbrenner.
Auch bei SPD, Grünen und zahlreichen Verbänden löste der Aktivismus der Landesregierung Kopfschütteln aus: „Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Suizidrate bei homosexuellen Jugendlichen viermal höher ist als bei heterosexuellen Jugendlichen“, argumentiert Sigrid Beer, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. Diese Tatsache belege, dass hier erheblicher Handlungsbedarf bestehe. „Schulkultur, Lernklima und Toleranz sind wichtig für Lernerfolg und Leistung.“ NATALIE WIESMANN