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Archiv-Artikel

Spieltriebe (4) In Telefonwelten verloren

Das Theater Osnabrück zeigt zum Spielzeitauftakt auf dem Festival „Spieltriebe“ vom 16. bis 18. September insgesamt zwölf Ur- und Erstaufführungen. Die taz nord stellt einige der jungen DramatikerInnen und ihre Stücke in einer Serie vor. Heute: Vera Kissels „Die Anruferin“.

„du, jutta? kann ich dich was fragen?“ Die kleine Paulina ist am Telefon. „die mutti kann ich nicht fragen, weil, weil sie doch die mutti ist! ...du, jutta? können kleine kinder auch sterben?“ Das können sie. In Vera Kissels Stück „Die Anruferin“ ist der Tod immer wieder Thema, das aber nur in der Fantasie von Irma Krischka. Diese gibt sich am Telefon gerne als eine andere Person aus, zum Beispiel als die kleine Paulina. Krischka ist „Die Anruferin“. Beim Festival „Spieltriebe“ wird Vera Kissels Stück uraufgeführt.

Auf den ersten Blick ist Krischka die gewöhnlichste Frau, die man sich denken kann. Mit den Nachbarn hält sie gern mal ein Schwätzchen, der Geduldsfaden reißt ihr nur, wenn „der ehring ausm dritten mitm schrubber unterwegs“ ist. „aber die ecken hat er nich getroffen“, schnarrt Irma dann. Ansonsten ist sie eine von denen, die jeden Tag ihr Kreuz tragen, ohne dass es irgendjemand merkt. Wenn sie von der Arbeit kommt, geht sie einkaufen, zuhause wartet ein Pflegefall auf sie. Und dieser monotone Ablauf hat sie abstumpfen lassen. „zeit zum wenden. gibt faules fleisch sonst“, ruft sie dem Bettlägrigen zu. Im Wohnzimmer hat Irma einen Schrein eingerichtet mit dem postergroßen Foto zweier Mädchen im Grundschulalter. Nippes und und Pflanzen im ganzen Zimmer.

Was man ihr auf der Straße nicht ansieht: Irma hat ein Telefon mit Headset. Das hilft ihr, aus der Einsamkeit zu fliehen, wenigstens für kurz. Irma telefoniert. Sie schlägt das Telefonbuch auf und ruft wahllos an. Am Telefon meldet sie sich dann als Paulina oder als deren fiktive Mutter Beatrix. „erzähl mir die geschichte von der frau mit den vier kindern“, verlangt Paulina. Wer wollte einem kleinen Mädchen abschlagen, ein paar Worte zu wechseln? Irma hat jetzt Gesellschaft.

Die Autorin Vera Kissel wurde 1959 in Heppenheim an der Bergstraße geboren. Sie wuchs im Ruhrgebiet auf, wo sie auch studierte. Neben dem Journalistikstudium in Dortmund begann sie mit dem literarischen Schreiben. Spät folgen die ersten Veröffentlichungen. Zunächst sind das vor allem Gedichte. Am Maxim Gorki Theater in Berlin wird 1997 ihr erstes Stück „Kalpak“ aufgeführt, im Jahr darauf der Gedichtband „Vogelkind“ herausgegeben. Seit dem folgen mehrere Veröffentlichungen und Preise, so das Bremer Autorenstipendium, der Stückepreis Niederdeutsch und die Position als Hausautorin des Mannheimer Nationaltheaters. Seit 1988 lebt Vera Kissel in Bremen.

Es sind die abseitigen Kleinigkeiten, die Kissel als Autorin interessieren – große Ideen oder Konflikte spielen bei ihr keine Rolle. Wer von Irmas Absonderlichkeit nicht fasziniert wird, den lässt das Stück ein wenig im Stich. Denn jenseits dieser Absonderlichkeit bietet es nicht viel Stoff. Wer sich jedoch auf Irma einlässt, der wird einige Überraschungen erleben. Dass Irma am Ende ihrer Einsamkeit nicht entflieht, spürt man am eigenen Leibe. Wenn Irma schweigt, ist auch die Bühne leer. Übrig bleibt sie allein.

Denis Bühler