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Archiv-Artikel

Kirchhofs Verknappung

Der Umstieg auf einen Einheitssteuersatz bedeutet Umverteilung von unten nach oben, heizt den internationalen Steuerwettbewerb an und zwingt den Staat zum Rückzug

Die Umverteilung von Kirchhof und Merkel: Kopfpauschale, Flat Tax, Rentenumbau und Kopfpauschale Wenn die Steuerlast sinkt, müssen auch die staatlichen Transferleistungen schrumpfen

Die Vorschläge von Angela Merkels Finanzexperten Paul Kirchhof kommen einer Revolution gleich. Der einheitliche Steuersatz von 25 Prozent manifestiert die Abkehr vom Sozialstaatsprinzip im Steuerrecht. Gestützt auf das Gleichheits- und Gerechtigkeitsgebot des Grundgesetzes, diente das Steuerrecht mit seinen ansteigenden Steuersätzen bisher dazu, große soziale Differenzen ein wenig auszugleichen. Dieser Anspruch an Umverteilung wird von Kirchhof praktisch vollständig aufgegeben.

Auf den ersten Blick mögen die Zahlen aus dem Kirchhof-Konzept gar nicht so schlecht klingen: Durch den Freibetrag von 8.000 Euro pro Person und den verringerten Steuersatz für die ersten 10.000 Euro, den Kirchhof als soziale Komponente doch noch in seinen Tarif eingebaut hat, scheint die Steuerlast auch für Geringverdiener zu sinken. Und von der Streichung von Ausnahmetatbeständen und Abschreibungsmöglichkeiten erwartet Kirchhof, dass Spitzenverdiener mit seinem Modell trotz deutlich niedrigerer Steuersätze mehr bezahlen – und erstaunlich viele Medien und Steuerzahlende glauben den fragwürdigen Beispielen.

Doch schon beim Steuermodell selbst sind Zweifel angebracht. Zum einen ignorieren viele Berechnungen, dass sich das Streichen von Abschreibungsmöglichkeiten wie der Pendlerpauschale oder den steuerfreien Nacht- und Feiertagszuschlägen auch bei geringen Einkommen auswirken wird. Bei den Spitzeneinkommen geht die Rechnung ebenfalls nicht auf: Um bei einem Jahreseinkommen von 500.000 Euro auf die gleiche Steuersumme wie bisher zu kommen, müsste die Bemessungsgrundlage um 60 bis 70 Prozent erhöht werden. Schon Fälle, in denen Spitzenverdiener mit Steuersparmodellen mehr als ein Drittel ihrer Einkünfte legal der Steuer entzogen haben, dürften eher selten sein.

Solche fragwürdigen Ergebnisse der individuellen Steuerrechnung sind nur die eine Seite. Auf der anderen stehen die indirekten Auswirkungen der leeren staatlichen Kassen. Seriöse Berechnungen der Finanzbehörden gehen davon aus, dass das Kirchhof-Konzept im ersten Jahr zu Mindereinnahmen von 43 Milliarden Euro führen würde; langfristig würden rund 20 Milliarden pro Jahr fehlen. Diese gewollte Verknappung der finanziellen Ressourcen der öffentlichen Hand wird schließlich dazu führen, dass Leistungen, die bislang öffentlich oder öffentlich subventioniert erbracht werden, teurer oder nur noch privat gegen Entgelt angeboten werden.

Einen armen Staat können sich aber nur die Reichen leisten. Wenn Universitäten nur noch gegen Studiengebühren besucht werden können und Volkshochschulen teurer werden, wenn die Zuschüsse für den öffentlichen Nahverkehr sinken und die Preise für Theater und Schwimmbad steigen, dann summieren sich die privaten Kosten des staatlichen Rückzugs für eine Familie schnell auf mehrere tausend Euro im Jahr. Während Gutverdienende solche Summen angesichts von Kirchhofs Steuergeschenken gerne bezahlen werden, kann sich die vermeintliche Steuererleichterung für Gering- und Normalverdiener schnell ins Gegenteil verkehren. Zusammen mit der Kopfpauschale im Gesundheitswesen, einem jetzt auch von Kirchhof geforderten Systemwechsel in der Rentenfinanzierung vom Solidarprinzip zur Kapitaldeckung und der von der Union avisierten Mehrwertsteuererhöhung, die ebenfalls geringe Einkommen überproportional belasten, zeigt sich klar, in welche Richtung künftig umverteilt werden soll.

In Zeiten der wirtschaftlichen Globalisierung ist eine solche Politik grundfalsch. Durch die zunehmende Konkurrenz im Bereich niedriger Einkommen und die sinkende Verhandlungsmacht der Gewerkschaften geht die Einkommensschere immer weiter auf, die Unsicherheit im Arbeitsleben wird größer, und die Anforderungen an den Staat etwa im Bereich der Bildung steigen. Globalisierung erhöht die Notwendigkeit umverteilender Steuerpolitik, doch Kirchhofs Einheitssteuersatz bedeutet das Gegenteil. Wenn Deutschland als erster großer westlicher Industriestaat eine Flat Tax einführen würde, bräche zudem eine neue Phase des internationalen Steuerwettbewerbs an, denn andere Länder würden nachziehen und versuchen, die neuen Niedrigsteuersätze zu unterbieten.

In einem hat Kirchhof Recht: Ein einfacheres Steuersystem mit weniger Ausnahmen ist wünschenswert, und die Abkehr von der bisherigen Steuerpolitik ist nötig. Allerdings in die andere Richtung: Statt Steuerwettbewerb, Steuersenkung und Vereinfachung auf Kosten der Gerechtigkeit anzustreben, ist ein Steuersystem erforderlich, das ergiebig genug ist, um eine umfassende Versorgung mit öffentlichen Gütern sicherzustellen. Es ist richtig, dafür Steuerschlupflöcher zu schließen und Steuerbetrug zu verhindern. Gleichzeitig muss jedoch der progressive Steuertarif erhalten bleiben und der Steuersatz für Spitzenverdiener nicht weiter gesenkt, sondern im Gegenteil wieder angehoben werden.

Um zu verhindern, dass sich Staaten im Kampf um die niedrigsten Steuern gegeneinander ausspielen lassen, müssen Steuern – unter Berücksichtigung der jeweiligen wirtschaftlichen Situation der Länder – international harmonisiert werden, im ersten Schritt auf der Ebene der EU. Auch auf nationalstaatlicher Ebene kann allerdings noch viel getan werden. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass die faktische Besteuerung von Kapitaleinkommen in Deutschland die niedrigste der ganzen EU ist. Hier fehlt es nicht an Möglichkeiten, sondern an der Durchsetzung der bestehenden Gesetze.

Derzeit scheint es jedoch wenig wahrscheinlich, dass die Finanzpolitik in diese Richtung gehen wird. Vielmehr wird die Besteuerung hoher Einkommen und insbesondere von Kapitaleinkommen immer weiter gesenkt werden. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts waren die oberen Stände von der Steuerpflicht befreit. Mit Kirchhof plant Merkel einen großen Schritt in diese Richtung. Dabei hat sie die Lehren der europäischen Geschichte offensichtlich verdrängt. Denn die Ungerechtigkeiten der Steuerpflicht waren ein wichtiger Auslöser der Französischen Revolution von 1789. Nicht ohne Grund heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein. […] Für den Unterhalt der öffentlichen Gewalt und für die Kosten der Verwaltung ist eine allgemeine Abgabe unumgänglich. Sie muss gleichmäßig auf alle Bürger unter Berücksichtigung ihrer Fähigkeiten und ihrer Vermögen verteilt werden.“

Die Zunahme sozialer Ungleichheit bei Einkommen, Vermögen, Lebensqualität und Sicherheit im Zuge der neoliberalen Globalisierung stellt die Fragen der Französischen Revolution neu. Wer heute glaubt, dass die BürgerInnen in Europa sich diese Entwicklung gefallen lassen, wird in absehbarer Zeit eines Besseren belehrt werden.

MALTE KREUTZFELDT SVEN GIEGOLD