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Archiv-Artikel

Die Jüngers und das Fantasieren

GEDANKENSPIELE Von Jörg Magenaus verdienstvoller Biografie des Brüderpaars Ernst und Friedrich Georg Jünger ließ sich unser Autor zu einem Essay über Unverwundbarkeit anregen

VON STEPHAN WACKWITZ

In zwei berühmt gewordenen poetologischen Aufsätzen, den „Berechnungen I. und II.“, entwickelte Arno Schmidt in den fünfziger Jahren, erkennbar angeregt durch Freuds kleine Schrift über den „Dichter und das Fantasieren“, die produktionsästhetische Kategorie des „Längeren Gedankenspiels“. Besonders einsame und begabte Kinder, so schrieb Schmidt, beschäftigen sich häufig mit fortsetzungsromanhaft über Jahre hinweg ausgesponnenen Fantasieerzählungen, in denen ihre reizarme Umwelt sich in den Schauplatz unerhörter Abenteuer, Bewährungsproben, Liebesschmerzen und Freundschaftsbünde verwandelt.

Wenn man Schmidts Aufsätze einmal gelesen hat, entdeckt man das „Längere Gedankenspiel“ auf den zweiten Blick überall in der Literaturgeschichte. Es ist der Quellcode für die monumentalen Lebenswerke so unterschiedlicher Schriftsteller wie Karl May und Jean Paul. Längere Gedankenspiele (oder seine Vorformen, Derivate und Überreste) stecken in den meisten Romanvorhaben. Das Nachleben kindlichen Träumens und Spielens in der Psyche des Künstlers ist ein psychodynamischer Kreativitätsmotor. Es führt den erwachsenen Schriftsteller zurück zu seinen Kindheitsquellen.

Auch dem Lebenswerk der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, dem Jörg Magenau nun eine verdienstvolle und schön geschriebene biografische Erzählung gewidmet hat, liegt ein „Längeres Gedankenspiel“ zugrunde. Wenn es einem nicht sofort auffällt, liegt das erstens daran, dass Friedrich Georg Jünger dem Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit so gut wie überhaupt nicht mehr gegenwärtig ist. Zweitens aber an dem eigentümlich philosophischen Charakter des Fantasierens, das die Büchern der beiden prägt.

Zum Beispiel in den „geosophischen“ Träumereien, die besonders in den Tagebüchern fast auf jeder Seite vorkommen: „Das Mittelmeer ist eine große Heimat, ein altes Zuhause. Ich merke das stärker bei jedem Besuch. Ob es im Kosmos auch Mittelmeere gibt?“ Ein Meer ist bei den Brüdern Jünger nie nur einfach viel Wasser. Sondern etwas Kosmisches. Oder vielleicht vielmehr auch gleich etwas hinter dem Kosmos Liegendes. Drogen zum Beispiel vermitteln dem Kiffer, Säufer oder Kokser „Schimmer des ewigen im sichtbaren Licht“. Platonische Uneigentlichkeit des Zuhandenen gilt auch für historische Überreste und die Geschichte überhaupt. Bestimmte Festungsüberreste in Dalmatien etwa, glaubt Ernst in einem Reisetagebuch, seien „zu Burgen geworden, in denen der Dämon der Landschaft residiert. Dem antwortet der Geist mit einer besonderen Wachsamkeit. Die hohlen Türme visieren nun wie leere Augenhöhlen andere Ziele und andere Gefahren an.“

Am deutlichsten tritt die platonische Verklärungstechnik der Jüngers hervor, wenn sie sich (wie es ihr verhältnismäßig oft unterläuft) auf einen allzu unbedeutenden Gegenstand richtet und unfreiwillig komisch wird (die Brüder waren Großmeister unfreiwilliger Komik). Das Folgende etwa fiel wiederum Ernst während eines Strandurlaubs in Sardinien auf: „Im Krug begegnen sich die beiden großen Elemente des Wassers und der Erde; sie grenzen sich durch ihn ab.“

Es ist einfach, das Bedürfnis nach hinter- und überweltlicher Idealität von allem und jedem und das mit ihm zusammenhängende Kunstwollen durchgehender Überhöhung altmodisch oder albern zu finden. Auch der Vorwurf mangelnder politischer Korrektheit liegt immer ziemlich nah, so etwa – ein unentwegt zitiertes Beispiel, das auch bei Magenau eine wichtige Rolle spielt – wenn Ernst Jünger während der Bombardierung von Paris nicht als Erstes einfällt, wie schrecklich der Krieg ist, sondern dass die Stadtlandschaft (die er vom Dach des Hotels Majestic aus betrachtet) in diesem Moment aussieht wie eine Blüte, die durch technische Insekten mit tödlichem Blütenstaub befruchtet wird.

Es ist ein altmodischer, politisch in der Tat denkbar unkorrekter und übrigens auch immer ein bisschen männerbündischer Platonismus, der da zum Ausdruck kommt. Man kann schon verstehen, dass seit 1948 viele an dieser Szene politisch-moralischen Anstoß genommen haben. Was freilich nur illustriert, dass literarische Qualität mit politisch-moralischer Vertretbarkeit meistens wenig zu tun hat.

Denn erstens muss einem so etwas erst mal einfallen. Eine Bombardierung so sehr sub specie aeternitatis zu betrachten, dass einem die Vergleichbarkeit mit einer Bestäubung durch Bienen auffällt – das bleibt intensiver im Gedächtnis haften als das Geschrei und Geknalle ganzer Kriegsfilme. Und zweitens erweist sich der Jünger’sche Platonismus gerade in dieser Szene (und in vielen weniger berühmten, die man genauso gut zitieren könnte) als philosophische Grundlagenwissenschaft einer lebenspraktischen Kaltblütigkeit, an der man sich auch in alltäglicheren Lebenslagen durchaus ein Beispiel nehmen kann. Nicht genug damit, dass Jünger an jenem Nachmittag auf der Dachterrasse des Majestic ja durchaus ein wenig von dem tödlichen Blütenstaub der alliierten Bomber auf den Kopf hätte fallen können; dann wäre es mit ihm aus gewesen. Vor allem aber: Wenn Meere Bilder kosmischer Heimat sind und Kokainräusche Schimmer des ewigen Lichts, Krüge eine Begegnung der Elemente, Ruinen sich als Augenhöhlen auf die Ideenwelt jenseits der Erscheinungen richten und Kriegsflugzeuge den Tod als ästhetische Befruchtung bringen, dann hat die Todesangst eigentlich keinen Gegenstand mehr. Denn mit all dem sind wir schon bei lebendigem Leib einen Schritt weit in der platonischen Ideenwelt.

„Er wartete nicht auf den Tod. Der Tod war immer schon da, war ein Bruder, ein guter Freund.“ So beginnt die biografische Erzählung Jörg Magenaus. „Irgendwann würde er ihm die Hand reichen und hinübertreten auf die andere Seite der Dinge.“

Damit hat Magenau ein Grundphantasma auf den Punkt gebracht, das der doppelte Lebensroman der Brüder lebenspraktisch und ihr gemeinsames „Längeres Gedankenspiel“ literarisch ausformulierte. Es ist eine philosophisch überhöhte Version des ursprünglichen narzisstischen Unverwundbarkeitsgefühls, jenes Anzengruber’schen „Es kann dir nix g’schehn“, das übrigens auch Freud in seinem Aufsatz über den Dichter und das Fantasieren zitiert. Es findet sich im frühen Lebenslauf vieler Kriegshelden und überhaupt vieler bedeutender Menschen, dem Goethes oder Winston Churchills zum Beispiel. Das Unverwundbarkeitsgefühl ist dabei offenbar das Ursprüngliche im Werk der Brüder gewesen.

Ohne die spätere Zutat der Theorie einer Vertauschbarkeit der Welten diesseits und jenseits des Todes hätte es auch vielleicht nur dazu gereicht, in einem flandrischen Schützengraben draufzugehen (so wie andere Jugendliche durch ihr narzisstisches Unverwundbarkeitsgefühl nur dazu verleitet werden, mit dem Mofa gegen Laternenpfosten zu knallen). Die Lebensleistung der Jüngers besteht darin, dass sie die Tollkühnheit des Jungmenschen, nachdem ihnen an der Westfront schnell genug aufgegangen sein wird, wie verletzlich sie in Wirklichkeit waren, mithilfe jenes Platonismus psychodynamisch umgewandelt haben in eine große Doppelerzählung von der Gleichgültigkeit des Unterschieds zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Empirie und Ideal, Zeit und Ewigkeit.

Dabei haben die Materialien dieser Erzählung bis an das Lebensende der beiden durchgehend etwas Kindliches bewahrt. Die Brüder Jünger schrieben zeitlebens über Dinge, die Heranwachsende interessieren: Tiere, Pflanzen, Krieg, Drogen, Maschinen, Männerfreundschaft, ferne Länder, Fantasy, Jagd, Geister. Der Tod machte die Dinge durch seine Nähe auf ähnliche Weise interessant, wie sich pubertierende Jungen für Parapsychologie interessieren. Die großen geschichtsphilosophischen Traumerzählungen von der Verabschiedung der Götter und der Heraufkunft der Titanenherrschaft in der Technik erinnern an die künstliche Mythologie von Online-Videospielen. In Ernst Jüngers Tagebuchzyklus „Siebzig verweht“ liegt eine literarisch nobilitierte Version der Tagträume Kara Ben Nemsis vor.

„Sie erinnern sich“, schreibt Freud in „Der Dichter und das Fantasieren“, „wir sagten, dass der Tagträumer seine Fantasien vor anderen sorgfältig verbirgt, weil er Gründe spürt, sich ihrer zu schämen. Ich füge nun hinzu, selbst wenn er sie uns mitteilen würde, könnte er uns durch solche Mitteilung keine Lust bereiten. Wir werden von solchen Fantasien, wenn wir sie erfahren, abgestoßen oder bleiben höchstens kühl gegen sie. Wenn aber der Dichter uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen Tagträume zu erklären geneigt sind, empfinden wir hohe, wahrscheinlich aus verschiedenen Quellen zusammenfließende Lust.“

Diese Erkenntnis führt aber zuletzt auf das wahrscheinlich Interessanteste am Lebenslauf der beiden: Die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger haben die wilden, männerbündischen deutschen (und deutschnationalen) Fantasien, Ressentiments, Ehrenpunkte, Illusionen, Wutanfälle und Träume des frühen 20. Jahrhunderts – den heißen Stoff, der von 1933 bis 1945 in mörderische Politik überführt worden ist – in ein literarisches Lebenswerk verwandelt, dem man auch als Bürger einer Demokratie ohne Reue durch die Jahrzehnte folgen konnte. Die psychodynamischen Wurzeln der großen politisch-militärischen Katastrophen des letzten Jahrhunderts sind im jahrzehntelang ausgesponnenen Gedankenspiel dieses literarischen Doppelwerks ausformuliert und überwunden zugleich.

Diese historische Wurzelbehandlung ist ihr literarischer Ruhm und – so paradox es klingt – ihr politischer Erfolg. Freud: „Vielleicht trägt es zu diesem Erfolg nicht wenig bei, dass uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Fantasien ohne Vorwurf und ohne Schämen zu genießen.“

Jörg Magenau: „Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger“. Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 320 Seiten, 22,95 Euro