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Archiv-Artikel

Drei Tage und Nächte in Seenot

ITALIEN Weder Malta noch Italien fühlten sich für das Flüchtlingsschiff zuständig. Die beiden EU-Staaten lieferten sich ein makabres Tauziehen um die Zuständigkeit in internationalen Gewässern

Auch die jetzt eingetroffenen Flüchtlinge sollten vermutlich gleich wieder nach Libyen gebracht werden

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Bloß 17 Meter war der Kahn lang, auf dem sich fast 300 Menschen drängten, tagelang schutzlos der stürmischen See, dem scharfen Wind ausgesetzt. Am Freitag, spätestens Samstag hätten sie gerettet werden können – doch erst am Montagabend waren sie schließlich in Sicherheit, da war ihre dramatische Überfahrt von Libyen nach Sizilien zu Ende. 72 Stunden lang waren die Passagiere Spielball nicht bloß der Wellen, sondern eines mittlerweile zur Routine werdenden Tauziehens zwischen Italien, Malta und Libyen.

Und wenigstens einer hat dieses makabre Tauziehen vermutlich mit dem Leben bezahlt. Als am Montagabend zwei Boote der Marine und Finanzpolizei sowie ein Schlepper die 300 Flüchtlinge in den sizilianischen Hafen Pozzallo brachten, zogen die Behörden Bilanz: 46 Frauen, unter ihnen vier Schwangere, befanden sich unter den Geborgenen, außerdem 29 Kinder; der Großteil der Bootsflüchtlinge stammt aus Somalia und Eritrea; 13 Personen wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Krankenhäuser gebracht. Für einen aber kam die Hilfe zu spät: Ein Afrikaner konnte nur noch tot an Land gebracht werden. Offen ist noch, ob ein zügigeres Eingreifen ihn hätte retten können.

Schon seit Freitag wussten die Behörden der drei betroffenen Staaten, dass das Flüchtlingsboot in Seenot war. Zwei Passagiere hatten mit einem Satellitentelefon Verwandte in Italien angerufen und von der Gefahr berichtet, die dem Boot angesichts meterhoher Wellen drohte. Da befand sich das wahrscheinlich in Bengasi ausgelaufene Schiff noch in libyschen Gewässern, näherte sich aber bereits internationalem Gewässer. Das wiederum ist großräumig in SAR-Zonen aufgeteilt. SAR steht für „Search and Rescue“ (Suche und Bergung). Und in jener Zone, die der Kahn mit seinen 300 Passagieren ansteuerte, ist Malta zuständig.

Bis vor kurzem galt in Rom die Philosophie: Wann immer Menschen in der Straße von Sizilien in Seenot sind, werden sie gerettet. Dann schickt Italien Schiffe zu ihrer Rettung, auch wenn die SAR-Zone eigentlich maltesisch ist. Doch damit ist es unter der Regierung Berlusconi vorbei. Am Freitag jedenfalls informierten die italienischen Behörden Libyen und Malta. Zugleich ging die Meldung auch an den italienischen Tanker „Antignano“, der in der Nähe des Flüchtlingsschiffes unterwegs war. Er ist jedoch für Rettungsaktionen völlig ungeeignet und erhielt deshalb den Auftrag, die Situation zu beobachten.

So fand sich also zunächst nur die „Antignano“ bei dem Flüchtlingsschiff ein. Ein paar Lebensmittelpakete ins Wasser werfen und zugleich den Tanker so in Position bringen, dass er dem kleinen Boot wenigstens ein bisschen Schutz vor den Wellen bot: Mehr als das konnte die Besatzung der „Antignano“ nicht unternehmen. Mit 176 Meter Länge ist der Tanker viel zu groß, um sich dem in Seenot befindlichen Flüchtlingsboot richtig zu nähern, ohne sein Kentern zu riskieren. Malta aber benutzte die Anwesenheit eines italienischen Schiffes, um sich aus der Verantwortung zu stehlen – der ganze Vorfall sei jetzt Sache der Italiener, hieß es aus La Valletta. Italien wiederum beharrte auf der Zuständigkeit der maltesischen Behörden.

Ebendiesen Standpunkt hatte das Land schon 2004 geltend gemacht, als die „Cap Anamur“ mit 37 Flüchtlingen an Bord Sizilien anlief. Die Tatsache, dass das deutsche Hilfsschiff nicht Malta angesteuert hatte, brachte dem „Cap Anamur“-Chef Elias Bierdel und Kapitän Stefan Schmidt einen jahrelangen Prozess wegen Schlepperei ein, der erst im Oktober mit einem Freispruch endete. Mittlerweile aber versucht Italien fast routinemäßig die Flüchtlinge an Malta zu delegieren. So kreuzte der türkische Frachter „Pinar“ mit 140 Flüchtlingen an Bord im letzten April tagelang zwischen Sizilien und Malta, ehe die italienischen Behörden klein beigaben.

Und wenn nicht Malta die Anlaufstelle ist, dann eben Libyen: So lautet die von Italien verfolgte Politik. 2008 schlossen Libyen und Italien ein Abkommen zur Bekämpfung illegaler Einwanderung. Verstärkt wurden seit April 2009 Flüchtlingsboote auf offener See abgefangen und direkt nach Tripolis zurückeskortiert. Und niemand weiß, wie viele Flüchtlingsschiffe direkt vor der libyschen Küste abgefangen werden – von jenen libyschen Patrouillenbooten, die Italien spendiert hat und auf denen italienisches Personal mitfährt. Menschenrechtsbedenken – den Flüchtlingen an Bord müsste das Recht zugestanden werden, ihr Begehren nach Asyl oder humanitärem Schutz vorzubringen – wischt Italiens Regierung beiseite: Keiner der seit April Abgefangenen habe je ein solches Begehren vorgetragen. Wie auch?

Auch die jetzt Angekommenen sollten vermutlich gleich wieder zurück nach Libyen. Dafür spricht, dass die Italiener nicht bloß mit zwei Booten, sondern zusätzlich mit einem Schlepper intervenierten. Doch der hohe Seegang hat in diesem Fall wohl eine schnelle Rückschaffungsaktion vereitelt. Und einmal in Italien eingetroffen, dürften die meisten Flüchtlinge kaum noch abzuschieben sein: Wenigstens die Eritreer und die Somalier erhalten in aller Regel ein humanitäres Bleiberecht, und auch die Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern haben jetzt Anspruch auf ein reguläres Asylverfahren.