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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH Die eigentliche Katastrophe

Wenn’s irgendwo so richtig knallt, dann packe ich die kleine Reisetasche

Spaß ist nicht das richtige Wort. Wirklich nicht. Man verspürt keinen Spaß beim Anblick von Leichen oder zerstörten Häusern. Aber Lust und Angst sind ganz nahe Verwandte. Vielleicht faszinieren mich darum Naturkatastrophen so sehr.

Ich kann nicht genug bekommen von Bildern, die die Kraft der Zerstörung zeigen, wie die Welle kommt, wie sie alles mitreißt, was danach noch übrig ist.

Wie oft habe ich mir die beiden Flugzeuge angeschaut, wie sie in die Hochhäuser rasten und auf der anderen Seite als Feuerbälle wieder herauskamen. Jetzt sitze ich wieder vor dem Fernseher. Leider.

Lieber wäre ich in New Orleans oder einem der anderen betroffenen Orte. So, wie seinerzeit beim Oder-Hochwasser, wie beim Erdbeben im San Giuliano oder wie beim Tsunami. Noch fast bei jeder größeren Naturkatastrophe klingelte das Telefon und ich hatte das Glück, sofort zur Berichterstattung an den Ort des Geschehens abreisen zu dürfen, an den „locus horribilis“, dorthin, wo der Schauder mich erfasst. Ein schönes, ein altes Wort: Schauder. Schauder und Idylle, auch so zwei enge Verwandte.

Warum treiben sich manche Menschen gerne nachts auf Friedhöfen herum? Warum schauen manche Menschen gerne „Tatort“?

Dass Schaulustige den Verkehr behindern, finde ich völlig normal, und ich habe nie verstanden, warum das im Verkehrsfunk immer mit so einem Unterton der Verachtung durchgegeben wird.

Mich reizt es bis heute, jedem Martinshorn hinterherzufahren, um zu schauen, was passiert ist. Ich bin ein Gaffer und habe sogar durch meinen Presseausweis eine Lizenz zum Gaffen. Daher steht meine kleine Katastrophenreisetasche immer gepackt im Schrank: zwei Unterhosen, zwei T-Shirts, zwei Paar Socken, Jeans und Zahnbürste. In fünf Minuten bin ich in der Regel abfahrbereit. Nur fünfzehn Minuten brauche ich bis zum Flughafen. Ich wohne äußerst katastrophengünstig.

Doch diesmal läutete es nicht: New Orleans ist von anderswo leichter zu erreichen. Es sind genügend Reporter vor Ort. Ich schaue also, wie alle anderen, nur Fernsehen und ärgere mich ein wenig, wenn Freunde mich begrüßen: „Wieso bist du noch hier?“

Die wahre Katastrophe für mich ist, nicht selbst dabei zu sein.

An den Krieg von 70/71 werden sich die meisten nicht mehr erinnern, als die Deutschen den Franzosen eine vernichtende Niederlage beigebracht haben. Aber mein Großvater hatte noch alle Wimpel, Orden, Zinnbecher und Heldengedenkbücher seines Vaters aufbewahrt. Auch im Zivilleben trug er diese Abzeichen am Revers, um allen zu zeigen: „Ich war dabei.“

So einen kleinen Anstecker „Hochwasser Dresden“ oder „Lawinenunglück Galtür“ oder auch nur „Bergrutsch Talheim“ würde ich gerne tragen wie einen Orden. Die Leute würden mich sehen und denken: So sehen Helden aus.

Niemand würde mich für einen Gaffer halten. Einmal war ich sogar schneller als die Katastrophe und schon vor ihr da. Vielleicht entwickelt man ja mit den Jahren einen siebten Sinn für das Unerwartete.

Jedenfalls flog ich in jenem Lawinenwinter 1999 mit dem Hubschrauber ins Paznauntal/Tirol – und ich war noch keine fünf Stunden da, als der Boden zu beben begann und ein Nebel aus Staub und Schnee die Luft erfüllte. In der Lawine starben damals 31 Menschen.

Die Faszination der Naturgewalt und das Mitleid mit den Opfern vertragen sich gut miteinander.

Selbst Freude und Mitleid schlagen zur selben Zeit in meiner Brust. So freue ich mich beispielsweise momentan darüber, dass die jüngste Sturmkatastrophe nicht wieder irgendein armes Land, sondern die reichste Nation der Erde getroffen hat.

Ja, ich sehe darin sogar eine Art ausgleichende Gerechtigkeit für das, was die Bewohner dieses Landes durch ihren Krieg im Irak anderen Bewohnern angetan haben.

Es würde mich allerdings noch mehr erfreuen, wenn ich wüsste, dass nur Häuser von Bush-Wählern und Armeeangehörigen zerstört worden wären.

Alle anderen tun mir aufrichtig Leid.

Dringender Notruf?kolumne@taz.deMontag: Susanne Lang über DIE ANDEREN