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Archiv-Artikel

Verfolgt von wilden Rittern

MUSICA POPULAR BRASILEIRA Samba-Klischees sind fehl am Platz: Im Heimathafen Neukölln gibt es heute mit Mariana Aydar und am Samstag mit Marcelo Camelo zwei neue Stimmen Brasiliens zu hören

Aydar entschied sich erst im Ausland für die traditionellen Bezüge in ihrer eigenen Musik

VON JULIAN WEBER

Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen Zauberei und Wirklichkeit? So genau lässt sich das nicht festlegen, wenn man sich brasilianische Musik anhört. Kaum ein Land hat eine reichhaltigere und regional unterschiedlichere Musikkultur hervorgebracht. Nirgendwo sonst wird so selbstverständlich aus fremden Musikstilen zitiert. Nirgendwo hat sich die Kolonialgeschichte zwischen europäischen, afrikanischen und südamerikanischen Bezügen bizarrer ausgewirkt. Und nirgendwo klingt der saudade genannte Blues aushaltbarer, weil hoffnungsvoller.

Kann Musik ein Schlüssel zum Verständnis der äußerst komplexen brasilianischen Kultur sein? „Du treibst durch die Wellen aus Mosaiksteinchen auf der Copacabana tropicana, der Gehweg ein verführerisches Einmaleins der Verflechtung von Schwarz und Weiß“, wie der amerikanische Autor John Krich einmal sein trügerisches Unwissen über Brasilien beschrieben hat, bevor er ins Land gereist ist.

Einer, bei dem die Klischees von Samba und Sonne fehl am Platze sind, ist der Sänger und Gitarrist Marcelo Camelo. Mit seiner sonoren Kratzestimme stülpt der 35-Jährige den kleinen Grausamkeiten des Lebens in seinen Texten ein wohliges Jäckchen über. Und seine Gitarrenriffs schmiegen sich an wie eine schmusewillige Hauskatze. Aber der Wohlklang täuscht. Der aus Rio de Janeiro stammende Musiker sieht den Surfern am Strand von Ipanema zwar zum Verwechseln ähnlich: Halblanges Haar, Zottelbart etc. Zum Surfen ist der Mann aber denkbar ungeeignet. Camelo fehlt nach eigenen Aussagen jegliches Gefühl für Balance. Auch Rad fahren hat er erst im hohen Alter von 28 Jahren erlernt. Andererseits begeistert er sich für den „Großen Hadronen-Speicherring“ in Genf, einem potenten Teilchenbeschleuniger, der Protonen fast auf Lichtgeschwindigkeit zur Kollision bringt.

Der Sohn eines aus Portugal eingewanderten Analphabeten und einer Malerin gilt, seit er mit seiner Band Los Hermanos in den nuller Jahren den Chartshit „Anna Julia“ komponiert hat, in seiner Heimat als Pophoffnung. Dann hat er das Sakrileg begangen, Rio de Janeiro, seine Heimatstadt – der Liebe wegen – in Richtung der schmucklosen Metropole São Paulo zu verlassen. Schlimmer noch, von den Tantiemen für die Alben seiner Band hat er sich, genau wie seine Bandkollegen, in São Paulo ein Apartment zugelegt. Bei dem Lohndumping, dem Musiker im Internetzeitalter ausgesetzt sind, gar keine so schlechte Idee.

Mäzene werden immer wichtiger. Und so kommt Marcelo Camelo mit staatlicher Unterstützung nach Berlin. Dass jetzt das brasilianische Kulturministerium beim Export seiner musikalischen Eigengewächse nach Deutschland hilft, ist zu begrüßen. Hängt man hierzulande doch sehr einem altbackenem Verständnis von musica popular brasileira (mpb) an, das meist mit Astrud Gilberto, Baden Powell und der Bossa Nova Ende der sechziger Jahre endet.

„Novas Vozes do Brasil“ heißt die Regierungsinitiative: Staatliche Zuschüsse alimentieren heute allerorten die Arbeit der Musikindustrie und ermöglichen Auftritte von Musikern im Ausland, warum nicht auch den Brasilianern.

Auf die Frage, ob er eitel sei, hat Camelo jüngst geantwortet: „Nur bei der Suche nach dem bestmöglichen Gitarrenriff.“ Am Samstag wird er im Heimathafen Neukölln Songs seines im vergangenen Jahr erschienenen Soloalbums „Toque Dela“ präsentieren. Entstanden mit Musikern der Indieband Hurtmold, dem Gitarristen Alexandre Kassin und dem in Brasilien lebenden Chicagoer Jazztrompeter Rob Mazurek zeigt es Marcelo Camelo als Singer-Songwriter von zenartigem Gleichmut. Sehr sanft, sehr elegant, aber wenn es sein muss mit einem tödlichen Punch und einem Faible für die Klangmöglichkeiten des Raums.

Brasilophile Franzosen

Am Tag zuvor tritt dort die gleichfalls in São Paulo ansässige Sängerin Mariana Aydar in Berlin auf. Auch sie eine Vertreterin der aktuellen Musikergeneration. Stärker als Marcelo Camelo sieht sich die 32-jährige Sängerin traditionellen Folkrhythmen verpflichtet und lässt – deutlicher als Camelo – Jazzelemente in ihrer Musik anklingen. Erstaunlicherweise hat sie sich erst im Ausland für die traditionellen Bezüge in ihrer eigenen Musik entschieden. Bevor 2004 ihr Debütalbum erschienen war, ging Aydar für ein Jahr nach Paris und genoss dort, wie sehr sich die Franzosen für brasilianische Popmusik interessieren. „Die kennen sich besser mit brasilianischen Musiktraditionen aus als wir selbst“, sagte sie anerkennend.

Auf ihrem aktuellen, dritten Album „Cavaleiro Selvagem Aqui Te Sigo“ (2011) wendet sie etwa Rhythmen an, die typisch für den Folkstil forró sind, der aus dem Nordosten Brasiliens kommt. Aydar bleibt nie lange in einem Genre haften, überbrückt Stilgrenzen spielerisch und drückt durch ihre dunkle Stimme das Selbstbewusstsein einer großen Künstlerin aus. Auf Deutsch heißt der Titel ihres Albums übrigens: „Wilde Ritter folgen ihnen“. Ob im Zauber oder in der Wirklichkeit, ist eigentlich egal.

■ Mariana Aydar, live: Heimathafen Neukölln, heute; Marcelo Camelo, live: ebendort, 13. Oktober