: „Neue Volksmusik“ von Zeitkratzer, Baustellen-Pop von Schneider TM
Was ist Heimat? Wo findet man die? Und wie klingt sie dann? Das sind Fragen, die sich sowohl Schneider TM als auch Zeitkratzer auf ihren neuen Veröffentlichungen stellen. Dabei zeigen der Indie-Rock-Pionier und das Avantgarde-Ensemble, dass man solche Problemstellungen mit vollkommen verschiedenen Voraussetzungen angehen kann. Und dann doch wieder bei Musik landet, die überraschende Ähnlichkeiten besitzt.
Wie schon der Titel des Albums verrät, versuchen Zeitkratzer eine „Neue Volksmusik“ zu entwickeln. Damit ist natürlich nicht das volkstümliche Gerotainment gemeint, für das Florian Silbereisen gut mit GEZ-Geldern bezahlt wird. Nein, das von Reinhold Friedl organisierte Berliner Ensemble baut auf die Erkenntnisse einer Forschungsreise durch das Donautal, die man vor einigen Jahren absolviert hat. Dort fanden sie Alphorn, Kuhglocken und Tuba, Bierzeltmelodien und Ländler, obskure Taktschemata und durchaus Krachledernes, dazu ein paar Rhythmen und Harmonien vom Balkan und seltsamerweise auch ein paar Klangideen aus dem Orient. Das wurde dann durch die Mühle der Neuen Musik gejagt und anschließend neu und ein bisschen schief zusammengesetzt. Die Ergebnisse wurden beim Alpentöne-Festival am Vierwaldstätter See aufgeführt und aufgenommen. Auf „Neue Volksmusik“ hört man nicht unfreundlichen, aber doch reservierten Applaus. Verständlich, zum Schunkeln ist diese neue Volksmusik nicht. Manchmal hört sie sich an wie ein besonders schmerzhafter Besuch beim Zahnarzt. Die Botschaft: Heimat hat zwar etwas mit Tradition zu tun, ist aber nicht notgedrungen das, was im „Musikantenstadl“ als solche verramscht wird.
Einen ungleich engeren Heimatbegriff benutzt Schneider TM. Für „Construction Sounds“ beginnt das Zuhause in der in Prenzlauer Berg gelegenen Wohnung von Dirk Dresselhaus, der sich hinter dem Projektnamen versteckt, und endet an dem Baugerüst, das dort sieben Jahre lang vor dem Fenster stand. Statt endgültig die Nerven zu verlieren, hat Dresselhaus die Baustellengeräusche aufgenommen, die ihn jahrelang umgaben, hat sie bearbeitet und daraus nun Tracks gebaut, die sich ins Gemüt fräsen wie eine Flex in einen Stahlträger.
Hier drinnen und dort draußen: Diese Diskrepanz klingt bei Schneider wie die Apokalypse. Dabei sind nur manche Stücke erschütternde Lärmorgien, andere beschreiben mit dem Spannungsaufbau eines guten Thrillers, wie sich morgens um sechs Uhr langsam das Kreischen einer Bohrmaschine ins noch schlafende Bewusstsein vorarbeitet. Die sechs bis zu 13 Minuten langen Klanginstallationen besitzen keinen Rhythmus, keine Melodien, keine Harmonien. Sie sind weniger Musik als Notwehr, aber auch der Soundtrack zu dem Wandel, den der Bezirks in den vergangenen Jahren erlebt hat. Aus dem Zuhause für Künstler und Musiker wie Dresselhaus wurde die Heimat einer neuen urbanen Oberschicht. Dieser Umbau klingt auf „Construction Sounds“ so bedrohlich, wie er für viele Bewohner bereits verlaufen ist. THOMAS WINKLER
■ Zeitkratzer: „Neue Volksmusik“ (Zeitkratzer Productions / Broken Silence)
■ Schneider TM: „Construction Sounds“ (Bureau B / Indigo), Record-Release-Konzert am 17. 10. in der Berghain-Kantine