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Tanz durch die Erinnerung

In ihrem Stück „unforgettable“ verwebt die Performerin Fernanda Ortiz die politische Geschichte Argentiniens mit ihren eigenen Erinnerungen – und denen der Zuschauer*innen

Von Katrin Ullmann

Im Jahr 1978 beginnt sie, die Geschichte, die Fernanda Ortiz erzählen wird. 1978. Wer erinnert sich? An diesem Abend, „unforgettable“, den sie im Westwerk auf die Bühne bringt, will die Tänzerin ihre eigene Geschichte (mit)teilen. Also geht sie mit einem Mikro langsam durch die Zuschauerreihen, fragt nach Erinnerungen, sucht nach Gemeinsamkeiten. Für den einen war 1978 das letzte Jahr im verhassten Waldorfkindergarten, eine andere erinnert sich an einen besonders heißen Sommer und an die Affenschaukeln, die sie als Kind trug.

Und Fernanda Ortiz? Sie erinnert sich an die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien. Eine WM, bei der sich die argentinische Nationalmannschaft zweifelhaft ins Finale schmuggelte. Und eine höchst umstrittene WM, abgehalten während der Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla, der 30.000 Menschen zum Opfer fielen.

In „unforgettable“ verwebt Ortiz, in Buenos Aires geboren, die politische Geschichte ihres Landes mit ihrer eigenen Biografie. Verzahnt sie mit ihrem Körper, in den sich – selbst 10.000 Kilometer von der iberischen Halbinsel entfernt – ihre urspanische Herkunft einschreibt. Durch bewahrte Traditionen und Tänze, durch Flamenco – den sie schließlich tanzt, in vollem Ornat, perfekt, geschmeidig, stolz und lächelnd. Später entdeckt sie das Ballett für sich und die Farbe Rot, die doch so gut zur Revolution passt. Sie gibt die allmorgendliche Gruppenchoreografie ihrer Schulzeit wieder, bewegt sich mit hohen schnellen Sprüngen durch die „Escrache“-Demonstrationen, durch Tränengas, prügelnde Polizisten und durch den Falkland-Krieg.

Der Musiker und Komponist Gregory Büttner findet dafür ein eindrückliches Bild: Auf einer Stahlplatte aufgereihte Spielzeugsoldaten und Panzer lässt er so lange elektroakustisch erzittern, bis sie um-, dann übereinander und schließlich vom Rand fallen. Eine Live-Kamera projiziert dieses grausame und blechern laute Szenario an die Wand.

Es ist Erinnerungskultur, die Ortiz betreibt. Ihr Vater – Rodolfo Ortiz – war Generalsekretär der Guevarista-Jugend. Vier Tage nach dem Putsch der Militärjunta 1955, während eines politischen Treffens der Partido Revolucionario de los Trabajadores (PRT) wurde er verschleppt. Erst Jahrzehnte später werden seine Überreste anhand forensischer Analysen in einem Massengrab identifiziert. Mit Anfang 20 verlässt Fernanda Ortiz ihre Heimat. Sie zieht nach Deutschland, studiert an der Folkwang-Schule in Essen, lebt seit 2014 in Hamburg.

Nur vordergründig erzählt Fernanda Ortiz an diesem Abend ihre eigene deutsch-argentinische Geschichte. Für sie ist „diese Geschichte von mir die Geschichte von uns allen“. Geschickt verknüpft sie kalendarische Eckdaten immer wieder mit den Erinnerungen der Zuschauer – „Wo waren Sie am 11. September 2001?“, „Was war das für ein Gefühl, als die Mauer fiel?“. Charmant erfragt sie Erfahrungen aus dem Publikum, bindet sie in die Aufführung ein.

Die szenische Collage entwickelt bald einen emotionalen Sog. Vor allem Ortiz’ argentinische Vergangenheit, ihre Erzählungen von der „Nunca más“-Bewegung, der Trauer um den spurlos verschwundenen Vater öffnen Einblicke in eine spannende, weil auch fremde Welt. Live-Kompositionen, Grafiken und Projektionen (Erik Tuckow), Fotografien (Chris Kremberg) und Video (Friederike Höppner) machen aus dem losen Erzähltext von Mariana Ortiz-Losada einen spielerischen Genremix, zeichnen ein assoziatives Bild.

Fernanda Ortiz tanzt dazu Tango, Ballett, Pina Bausch. „Alle Tänze sind in meinem Körper eingraviert“, sagt sie. Jede der Kurzchoreografien verweist auf eine andere Lebensepoche, auf eine Zeit mit kleinen und großen Ereignissen; mit Staatsbankrotten und Attentaten, Angeklagten und Begnadigten, Tätern und Opfern, Tänzen und Tanzenden. Mal ist die eine Geschichte zu ausführlich erzählt, mal wird ein Ereignis allzu schulmeisterlich erklärt, oft verweilt die Performerin zu bedeutungsvoll auf den Zuschaueraussagen und immer fehlt den über Tonspur eingespielten Erinnerungen eine professionelle Sprecherstimme.

Doch diese scheinbare Unfertigkeit, ob beabsichtigt oder nicht, verleiht dem Abend eine große Nähe, eine fast entwaffnende Ehrlichkeit und Authentizität. Und so ertanzt und performt Ortiz aus ihren persönlichen Erinnerungen einen Abend, der einem gelungenen Dokumentarfilm gleicht: atmosphärisch, spielerisch, faktenreich und emotional. Es ist ein Abend über Geschichte und Geschichten, über Argentinien und Deutschland – und über unvergessliche Erinnerungen.

Sa, 30. 6., und So, 1. 7., 20 Uhr, Westwerk

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