: Missing New Orleans
VON CRAIG MORRIS
Letzten Winter besuchte ich New Orleans zum ersten Mal seit fast acht Jahren. Als ich 1990 New Orleans verließ, habe ich die Stadt nicht vermisst. Ich zog nach Texas, um meinen Magister zu machen, und trauerte nur den unvergleichlich schönen Bäumen der Stadt nach. Letzten Winter machte ich meinen Frieden mit ihr, und als ich die Zeilen unten im Februar schrieb, ahnte ich nicht, dass ich die Stadt gerade rechtzeitig besucht hatte.
New Orleans hatte mich verraten. Ich hatte ein besseres Leben in Austin, Texas, und blickte auf meine Geburtsstadt wie auf eine Geliebte zurück, die meine Liebe nicht verdient hatte. Seit ihrer Geburt hatte sie auf sich gar nicht aufgepasst. Sie gab sich jeder Freude hin, betrank sich, statt was aus sich zu machen – und dabei hätte sie so viel zu bieten gehabt. Nicht nur die Bäume, von denen Louis Armstrong einst sang:
Do you know what it means to miss New Orleans / And miss it each night and day / I know I’m not wrong … this feeling’s gettin’ stronger / The longer, I stay away / Miss them moss-covered vines, the tall sugar pines / Where mockin’ birds used to sing / And I’d like to see that lazy Mississippi hurryin’ into spring.
Nach fast acht Jahren hatte ich vergessen, wie stark diese Stadt dem Rausch frönt. Eines Abends war ich privat bei einigen Leuten eingeladen, in deren Organisation ich zwei Wochen später einen Vortrag halten würde. Man servierte Wein und Käse, aber ich trank zunächst Eiswasser, weil ich zu viele salzige Maischips gegessen und unheimlichen Durst hatte. Dann plötzlich ergriff mich mein einheimisches Gespür, und ich dachte: „Du musst Wein trinken, sonst halten sie dich für einen Alkoholiker.“ Keine 30 Sekunden später stand die Gastgeberin vor mir und gab mir zu verstehen, dass sie auch Härteres auf Lager hat, falls ich keinen Wein trinke – ob ich lieber einen Whisky hätte?
Neben „Sin City“, „The Big Easy“ (irgendwie geht alles in New Orleans, nur nicht gut), „The Crescent City“ (der Mississippi rahmt die Stadt in einer Sichel ein) wird die Stadt auch „The City That Care Forgot“ genannt. Im Internationalen Flughafen von New Orleans sind mehr als die Hälfte der Sitze in den Wartehallen zerschlissen. Jeder andere Flughafen in den USA würde seine Sitze erneuern, aber nicht die „City That Care Forgot“. Die Einheimischen nehmen das mit Humor – und Alkohol: Als der Bürgermeister die Kampagne „New Orleans: Proud to call it home“ in die Welt setzte, antworteten die Einheimischen: „New Orleans: Proud to crawl home“ (wir sind stolz, auf allen Vieren heim zu kriechen). Die neueKamapgne der Stadt lautet „Desire“.
Es fiel mir Ende 2004 schwer, meine Stadt nicht mehr zu lieben. Ich stand eines Nachts in einer Kneipe, in der eine richtige Blaskapelle (mit Tuba statt Kontrabass) die alte Volksmusik spielte, die man weltweit Jazz und Funk nennt, und staunte: Schwarz und Weiß tanzten hauteng und völlig durchgeschwitzt an einem warmen Dezembertag nebeneinander und klatschten auf 2 und 4 – genau die Schläge, die die Band nicht spielte.
Die Geschichte der Rassentrennung in New Orleans ist eine Besonderheit in den USA. Nachdem die Stadt 1718 von den Franzosen gegründet wurde, schliefen viele der Männer aus der Alten Welt mit Afrikanerinnen. Waren die Kinder aus solchen Beziehungen dann frei wie die Väter oder Sklaven wie die Mütter? Laut dem „Code Noir“ waren diese Kinder Sklaven – aber wen kümmert es, solange das Leben Spaß macht.
Es gab 1763 viele reiche, freie und sogar Sklaven besitzende Schwarze in New Orleans, als die Stadt an die Spanier überging. Diese hatten ihrerseits auch keine so scharfe Rassentrennung wie die Briten, und so wurde New Orleans zu einem Zufluchtsort für Mulatten, die ihrem Sklavenhalter entkommen waren. Als die Stadt 1803 an die Franzosen zurückging, die sie wiederum 1804 an die neu gegründeten Vereinigten Staaten verkauften, war ein Drittel der Schwarzen in der Stadt frei.
1811 zog die Stadt eine Gruppe von Sklaven von einer Plantage nördlich der Stadt an. Diese veranstalteten gleich den größten Aufstand gegen die Sklaverei, den es jemals in einer US-Stadt gegeben hat. Haiti ist nicht so weit weg, dort hatten sich die Sklaven 1804 erfolgreich befreit. Aber in New Orleans ist nichts zu gewinnen, und so wurde der Aufstand niedergeschlagen. New Orleans ist auch noch der Schauplatz der größten Straßenschlacht in einer amerikanischen Stadt. 1874 haben einige „Southern Gentlemen“ gegen die „Entnazifizierung“ (reconstruction) des Südens heftigst protestiert. Sie verlangten die Herstellung der alten Ordnung und wurden nach heftigen Kämpfen auf dem Liberty Place niedergeschlagen – weil eben nichts in New Orleans gelingen kann.
Lange stand ein Denkmal auf dem so genannten Liberty Place – umstritten, denn sollte man dieser Idioten überhaupt gedenken? Wie wäre es mit einem Mahnmal? Heute steht das Denkmal etwas ab vom Schuss in der Innenstadt, der Wortlaut auf der Tafel sorgt aber auch noch heute für Aufregung. Dafür steht eine riesige Statue des Rebellengenerals Robert E. Lee auf einer der Hauptverkehrsachsen der Innenstadt (Lee Square). Der General kann aber nichts dafür, dass manche Südstaatler ihn als den Verfechter der alten Ordnung missverstehen:
There are few, I believe, in this enlightened age, who will not acknowledge that slavery as an institution is a moral and political evil. (Confederate General Robert E. Lee).
Und auch später wurde die Rassentrennung strengstens beibehalten. Als die Stadt dann in den 60ern zwangsintegriert wurde, beschlossen die (weißen) Stadträte, die Mittel für öffentliche Einrichtung zu kürzen. Man will ja keine Steuergelder verschwenden, und schon gar nicht wegen irgendwelcher Schwarzen. Die Privatisierung in den USA hat seinen Ursprung im Rassismus. Die alte Ordnung findet man bei den berühmten Fastnachtsfestlichkeiten der Stadt wieder, die den französischen Namen „Mardi Gras“ tragen. Knapp eine Million Besucher verdoppeln die Bevölkerung der Stadt für einige Tage und besaufen sich. Wenn die Touristen nicht gerade in langen Schlangen vor den Klos der Innenstadt stehen, dann findet man sie am Rand der großen Boulevards, wo sie den großen Umzügen beiwohnen. Plastikketten und Spielmünzen mit dem historischen Namen „doubloons“ werden von Menschen auf den vorbeiziehenden Waggons in die Menschenmenge geworfen.
Als Kind lernt man schnell, dass man sich nie bückt, um eine Doubloon aufzuheben, sondern man stellt sie erst mal mit dem Fuß sicher. Aber Mardi Gras ist eigentlich nichts für Kinder. Am Tag vor Aschermittwoch sieht man so viele nackte weibliche Oberkörper wie im Sommer am Strand in Frankreich. Die Männer halten ihre besten Plastikketten hin und rufen: „Show your tits“. Die Frauen heben den Pulli hoch und fangen die Kette. Wäre es nicht so kalt im Februar, würden viele zu Mardi Gras wahrscheinlich nackt gehen. Dann allerdings wäre es schade um die vielen Männer, die ihre schönen Kleider nicht mehr anhätten.
Mardi Gras hat seine Wurzeln nicht nur im katholischen Karneval, sondern in der Rassengeschichte der Stadt. Es waren einst die hohen Herren der Stadt, die ihre Pracht zur Schau stellten und Kleinigkeiten in die glotzende Menschenmenge warfen. Hinzu kamen die Feiern der Schwarzen, die sich schon seit der Sklaverei draußen auf dem Congo Square (heute Louis Armstrong Park) am Rande der damaligen Stadt (heute das Französische Viertel oder Vieux Carré) versammelten, tanzten und Musik mit allem machte, was ihnen zur Verfügung stand. Laut einer Legende stammt der Urjazz aus dem Congo Square.
Eine der ältesten schwarzen Mardi-Gras-Krewes sind die Zulus. Ursprünglich hieß der Verein „Zulu Social Aid and Pleasure Club“. An diesem Namen kann man die wohl bedeutendste und eigenartigste Grundeinstellung von New Orleans ablesen. Den meisten Menschen in New Orleans geht es nicht gut: schlecht bezahlte Arbeit, schlechte Schulen, schlechte Chancen. Aber man versucht sich gegenseitig zu helfen (Social Aid), und man vergisst nie, den Tag zu genießen (Pleasure Club). Die Freude kann einem keiner nehmen.
Bei einem anderen Umzug, den es nur in New Orleans gibt, wird diese Einstellung auf die Spitze getrieben: die Beerdigungsumzüge (funeral marches). In dieser Tradition, die sogar für ein paar Jahrzehnte mehr oder weniger ausgestorben war und erst in meiner Jugend wiederbelebt wurde, spielt eine Jazz-Blaskappelle eine traurige Musik auf dem Weg zum Friedhof. Auf dem Weg vom Friedhof nach Hause wird dann eine fetzige Musik gespielt, oft sogar dieselbe Nummer, aber in „double time“, also doppelt so schnell.
Der trübe Text passt oft nicht zur heiteren Musik, jedenfalls nicht für manche Ausländer aus Neuengland, Kalifornien usw. Die Musikgattung Blues kommt zwar nicht aus New Orleans, sondern aus dem Mississippi-Delta, und das ist nicht etwa die Mündung des Mississippi knapp unterhalb New Orleans, sondern das Überflutungsgebiet des Flusses im Norden des Bundesstaates Mississippi südlich von Memphis. Aber in New Orleans singt und tanzt man sich sein Leid vom Leibe. Wenn es viel Leid gibt, singt und tanzt man oft.
Nach so vielen Jahren in Europa beeindruckte mich diese Heiterkeit am meisten. Man begegnet Menschen auf der Straße in New Orleans, die komplett verwahrlost aussehen (ja, noch viel schlimmer als in Berlin). Viele Autos in der Stadt kämen in Deutschland nie durch den TÜV, die Straßen sind seit Jahrzehnten nur noch geflickt, und in fast jedem Block findet man ein abrissbereites Haus.
Die Großstädte in Europa sind viel gepflegter, aber ich mag sie trotzdem nicht so gerne. Die Menschen in Berlin und Paris lächeln so selten. So viele von ihnen scheinen von den Mühen des Alltags ausgelaugt zu sein. Sie schleppen ihre Taschen mit sich herum, als wären Steine drin, und schauen drein, als hätten sie einen harten Tag hinter sich. Die Menschen in New Orleans sehen aus, als hätten sie ein hartes Leben hinter sich. Wenn man sie aber nach dem Weg fragt, kommt man ins Gespräch, und eine Freundlichkeit und eine Lebensfreude kommen zum Vorschein. Nennen wir es mal den Lebensdrang.