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alte begriffe neu definiertSelbstständige Denker

Wie es sich für einen Rundumschlag gehört, endet die Bescheidenheit schon beim Buchtitel: „Wir kündigen! Und definieren das Land neu“. Sind hier, wie Helmut Schmidt einst meinte, wieder einmal Leute am Werk, die alles bestreiten, außer ihren Lebensunterhalt? Nein, dazu sind die Autoren zu lange im Geschäft als Publizisten und Journalisten. Doch Dagmar Deckstein (Süddeutsche Zeitung), Wolf Lotter (brandeins), Michael Gleich und Peter Felixberger (ChangeX) geben klar zu erkennen, dass sie die Nase voll haben vom Pathos des Reformismus und der Apokalypse. Dabei fürchten sie offenkundig auch nicht die deutsche Standardfrage, die man vom Einkaufen kennt: Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner? Sie machen in der Tat keine Kompromisse und führen so einen Bildersturm gegen all die Worte, deren Bedeutung für sie nicht mehr stimmt.

Doch die alten Wortbilder werden nicht einfach heruntergerissen, die Autoren bringen gleich dreißig neue mit: Was bedeuten eigentlich „Erfolg“, „Arbeit“, „Sicherheit“, „Risiko“ oder „Selbstständigkeit“? Für sie hilft es nicht mehr weiter, was man bisher darunter verstanden hat – sondern nur, was jeder Einzelne für sich darin findet, um seinen Weg zu gehen. Daher unternehmen sie den herausfordernden Versuch, die totgerittenen Begriffe intellektuell neu in die Hand zu nehmen, jenseits des politischen Wortgeklingels in den Medien.

Die behandelten Begriffe sind allesamt recht diesseitig. Interessant, dass etwa „Glauben“, „Angst“ oder „Macht“ fehlen; selbst die allseits beschworene „Solidarität“ hat kein eigenes Kapitel. Dabei stehen gerade die vier Herausgeber füreinander ein, denn das Buch ist ein Gemeinschaftswerk nach Art des Autorenkollektivs, und jeder trägt die Ansichten der anderen mit dem eigenen Namen mit.

Bei der Prüfung des inneren Werts der Worte von Worten wie „Selbstständigkeit“ wird provozierend und originell analysiert: „Vorher: Man kann sich nicht mehr auf die Fähigkeit des Staates verlassen, dass einem in der Not geholfen wird. Das System hat sich selbstständig gemacht, braucht aber zum Überleben den unselbstständigen, schwachen Bürger.“ Dem wird ein „Nachher“ entgegengesetzt: „Man kann sich nur mehr auf die Fähigkeit verlassen, sich selbst zu helfen. Selbstständige stützen das System. Den Tüchtigen gehört die Welt, dem Rest das Weihnachtsgeld.“

Wer hier die Fratze des Neoliberalismus zu erblicken glaubt, den irritieren wenig später Sätze wie: „Manager sind unsere Feinde. Sie sind die dekadenteste Entwicklung des Staatskapitalismus.“ Doch die so Formulierenden lassen sich vor keinen ideologischen Karren spannen, es sei denn vor den eigenen – es ist vielleicht der deutlichste Hinweis auf den inneren Aufruhr der Sandwichgeneration, die für die Zukunft ihrer Eltern, ihrer Kinder und ganz nebenbei auch für sich selbst sorgen soll. Im Angesicht des sozialen Ermüdungsbruchs kann man schon mal an die Kündigung denken.

Jedoch: Kündigen, um neu zu definieren – das ist wie austreten, um mitzumachen. Den Widerspruch erkannte schon Herbert Wehner, als er bemerkte, wer rausgehe, müsse auch wieder reinkommen. Denn sonst ginge es auch ohne ihn weiter. Das Problem mit der postmodernen Beliebigkeit ist, dass alles auch ganz anders sein kann. Manchmal hilft die Methodik nicht weiter, und den Autoren geht es wie dem Wissenschaftler, der nachts seinen Autoschlüssel unter einer Straßenlaterne sucht. Da hat er ihn zwar nicht verloren, aber wenigstens sieht er dort etwas. Doch vielleicht sollte man nicht so sehr den Titel für bare Münze nehmen, sondern besser die Autoren bei ihrem Wort. Denn sie halten es mit skeptischem Optimismus, fast wie zu alten Spontizeiten: Du hast keine Chance, also nutze sie. Und dass sie einfach damit anfangen, macht den Reiz des Buches aus. ALEXANDER ROSS

Dagmar Deckstein u. a. (Hg.): „Wir kündigen! Und definieren das Land neu“. Hanser Verlag, München 2005, 192 Seiten, 19,90 Euro.

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