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Schauspielerei ohne Theater ist Murks: Der Münchner Verein inkunst e. V. wird vom Arbeitsamt finanziert und bietet arbeitslosen Schauspielern Starthilfe

VON SABINE LEUCHT

Da springen sie wie verliebte Faune im nimmermüden Sommerregen herum und versuchen mit Roland Barthes ihrem Gefühl zur Sprache zu verhelfen. Selbst die Nacht schlägt sich dabei auf ihre Seite: Der Regen sprüht nur sanft, die Luft ist mild – ein gutes Klima für Liebende; selbst für solche mit Wollmützen tief über den Augen und Textbüchern in den Händen.

Und eine große, kurze Stunde für einen bis zur Albernheit ausgelassenen Claus Peter Seifert, der der Älteste und Wildeste ist unter diesen fragmentierten Gefühlsathleten, aber auch der Entspannteste, dass er bei einem Satz wie diesem nicht an die nicht vorhandene Decke geht: „Ich bin mir selbst mein eigenes Theater.“ Sagt der Liebende in Barthes’ „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ über sich selbst und sagt sich möglicherweise zum Trost manch ein Theaterschaffender, der zwischen zwei Kurzzeitengagements oder direkt nach der Schauspielschule allenfalls bei Hartz IV Unterschlupf findet. Meist aber noch nicht einmal das. Und überhaupt: Ein kreativer Beruf ohne die Möglichkeit, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, das ist wie ein Haus ohne Dach, eine Brille ohne Nase, einfach Murks.

So ähnlich dachte der Münchner Regisseur Seifert im Jahr 2001 und fühlte deswegen mal beim Arbeitsamt vor. Nun kommt schon die erste Überraschung: Behörden stehen einem guten Einfall zumindest nicht generell im Weg. Seifert hat damals eine Frau Glöckner und einen Herrn Pauli getroffen. Erstere ist mittlerweile pensioniert, beide aber dürften sich freuen, wenn man sie der Co-Urheberschaft bezichtigt an einem Projekt, das nun bald seinen fünften Geburtstag feiert. Noch im selben Jahr nämlich gründete Seifert mit dem Regisseur Dirk Engler und dem Organisationstalent Barbara Koreis den Verein inkunst e. V. Und was für heutige Besucher aussehen mag wie ein gewöhnliches Off-Theater, ist im Grunde ein Fortbildungsprojekt wie ein Computerkurs, zur Gänze gefördert von der Bundesagentur für Arbeit: ein zweimal jährlich neu betanktes kreatives Pulverfass. Nur dass man hier eben mit Termini wie „Bildungsgutschein“ operiert, ohne den hier keiner mitmischen kann, auch wenn sich interessierte Schauspieler, Dramaturgen oder Techniker, Kostüm- oder Bühnenbildner mittlerweile direkt bei inkunst bewerben müssen (www.inkunst.de). Das Vorsprechen für die am 25. Oktober beginnende zehnte Staffel startet in Kürze.

„Wir leben fast ausschließlich von Mundpropaganda, die Leute werden nicht hierher geschickt“, sagt Mario Andersen, seit 2002 mit im inkunst-Boot, das heute besser bekannt ist unter dem Namen seiner Spielstätte „Halle 7“. Sie liegt in der Münchner Waltherstraße 7a und damit in praktischer Gehweite zum Arbeitsamt. Doch den Beigeschmack des bloß sozial engagierten Auffangbeckens für schwer Vermittelbare hat das Projekt längst abgeschüttelt. Nicht erst, seit mit dem Aushängeschild Sabina Dhein sogar eine Intendantin (am Theater Erlangen) aus ihrem Schoß hervorgegangen ist, ist die Halle 7 für Münchner Theaterfans zum Synonym geworden für engagierte Theaterarbeit. Und vor allem für moderne Dramatik.

Natürlich trifft nicht jede der jährlich etwa acht Inszenierungen ins Schwarze, aber so etwas wie der verkrampfte „Kirschgarten“ zu Beginn käme heute nicht mehr vor. Zwar brauchten sie, so Engler, personalintensive Stücke, um eben möglichst vielen Schauspielern ein genügend großes Schaufenster zu öffnen. Aber weil ja zu den Premieren Theaterleute aus ganz Deutschland kommen sollen, hat man früh die Marktlücke Deutsche Erstaufführungen und selten gespielte Stücke besetzt, während die Tendenz in vielen Theatern eher wieder in Richtung Altbekanntes geht.

„Wir sind das einzige Theater, das zugibt, Theater für Theaterleute zu machen“, sagt Dirk Engler. Denn nur die können denen, die hier vorübergehend arbeiten, auch weiterhelfen. Locken aber kann man sie auf Dauer nur mit künstlerischer Qualität.

Dem Geldgeber Arbeitsamt ist das alles egal, so Engler: „Ob wir nun den Oscar oder die schlechtesten Kritiken der Welt kriegen. Entscheidend ist allein der Vermittlungserfolg.“ Als die neunte Staffel im Frühsommer mit einem wunderbar lustvollen Abschlussfestival zu Ende gegangen ist, das durchaus mehrdeutig „Stück für Stück zum Glück“ hieß, war etwa ein Dutzend der etwa 50 Teilnehmer bereits wieder unter Vertrag. Was die BA aber fordert, ist eine Quote von 75 Prozent. Und offiziell sind damit Zwei- bis Zehnjahresverträge gemeint, die es im künstlerischen Bereich kaum gibt. So rechnen die inkunst-Betreiber auch Stückverträge mit dazu, und wer nicht gleich vom Fleck weg, sondern erst zwei Monate danach ein Engagement findet, kommt auch noch mit hinein in die Statistik der Vermittelten. Dann schreibt sich inkunst den Motivations- und Kompetenzschub zugute, den zu fördern ja tatsächlich ein Pfeiler dieses Theaters ist.

Neben den Inszenierungen und dem Körper- und Stimmtraining bietet es nämlich auch Seminare in Selbstvermarktung, eine individuelle Motivationsberatung sowie Informationen zum Markt an. Und jeder ist vor allem dazu aufgefordert, heftig Kontakte zu knüpfen. Vom Berliner Ensemble über das Nationaltheater Budapest bis in ein Naturtheater auf Kreta zieht sich mittlerweile die Spur derer, die für sich das Beste daraus gemacht haben. Man trifft sie in „Verliebt in Berlin“ und in vielen kleinen und großen Häusern der Republik.

Kristo Sagor, dessen Stück „Durstige Vögel“ inkunst aufgeführt hat, startete danach am Münchner Volkstheater seine Karriere als Regisseur. Und wenn das im halbseidenen Milieu spielende „Suburban Motel“ des Kanadiers George F. Walker in der kommenden Saison am Münchner Residenztheater nachgespielt wird, wird auch die 24-jährige Schauspielerin Judith Toth mit dabei sein, über deren frischen Erfolg sich die vier inkunst-Leiter geradezu unbändig freuen. Am letzten Abend der letzten Staffel steht die selbstbewusst wirkende junge Frau dann aber nur mit halb glücklichem Gesicht in der Menge, um sich von ihren Kollegen auf Zeit zu verabschieden. „Jeder kommt nur einmal, und heute Abend ist großer Weintag“, sagt Mario Andersen. Das Abenteuer des dauernden Neubeginns, hört man hier unschwer heraus, zehrt auf Dauer auch an den Kräften.