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berliner szenenMontag mal vollkommen anders

Es ist noch sehr früh am Morgen, als ich an diesem Montag müde meine Wohnung verlasse. Ich kaufe mir die Tageszeitung und einen großen Kaffee bei der „Süßen Ecke“ und laufe in Richtung Görlitzer Bahnhof. Nach ein paar Metern passiere ich eine offene Telefonzelle, die dieses Mal zu meiner großen Verwunderung nicht leer steht. Eine ältere Frau mit buntem Blumenrock und zwei Sonnenbrillen, eine auf der Nase, die andere auf dem Kopf, redet und lacht laut in den Hörer. Ich verstehe aber nur das Lachen. Als sie mich wahrnimmt, nimmt sie den Hörer vom Ohr und begrüßt mich so, als würden wir uns kennen. Ich grüße zurück und trinke einen großen Schluck vom Kaffee. Ein klarer Kopf scheint so fern, viel ferner als sonst an einem Montagmorgen.

Oben an der U-Bahn-Station setze ich mich auf eine Wartebank und denke noch über die Frau in der Telefonzelle nach, als ein Mann mit löchriger Hose auf meiner Höhe stehen bleibt. Er zieht eine Zigaretten­schachtel aus seiner Brusttasche und sagt: „Ich bin obdachlos. Willst du ’ne Kippe?“ Ich lehne dankend ab. Ich bin verwirrt, noch mehr als zuvor. Wäre es draußen nicht hell und hätte ich mir eben nicht erst die Zeitung von Montag gekauft, würde ich denken, es wäre eine Kreuzberger Nacht am Wochenende.

Als die Bahn einfährt, steigt auch der Mann mit der Zigarettenschachtel ein und holt dann die Motz hervor. Er sagt: „Ich bin obdachlos. Will jemand die Motz?“ Doch jetzt scheint seine Frage ganz normal zu sein, obwohl er nur die Zigarette mit der Zeitung ausgetauscht hat. Die Motz wurde mir schon oft von Obdachlosen angeboten. Und schon oft habe ich sie genommen. Gegen Geld, versteht sich.

Ich frage ihn, ob er das mit der Kippe eben wirklich ernst gemeint hat. Er schaut mir in die Augen und meint: „Geben und nehmen. Das ist es doch, was zählt.“ Eva Müller-Foell

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