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Archiv-Artikel

Die Geschichte von Carlo und dem toten Tintenfisch

RECHERCHE Plötzlich gab es freitags keinen Fisch mehr im taz-Café. Etwa, weil der Koch Buddhist geworden ist? Wir haben nachgefragt

„Was esse ich hier? Ein Stück von einer Leiche!“

CARLO ROSSI, TAZ-KOCH

Rudi-Dutschke-Straße 23, Berlin. In diesem Haus wird die taz gemacht, an die hundert – niemand weiß es so genau – Journalisten recherchieren, schreiben, feilen im Dienste von Artikel 5 GG. Maxime ihres Handelns: der Pressekodex. Die Achtung vor der Wahrheit, steht darin, ist oberstes Gebot. Doch auch im taz-Gebäude kursieren urban legends – moderne Mythen, die auf Fluren, in E-Mail-Korrespondenzen und dem schummrigen Keller entstehen, sich ausbreiten und selbst von seriösen Journalisten weitererzählt werden. Unter vorgehaltener Hand, ungeprüft!

Eine solche urban legend ging seit einiger Zeit im Hause um: Einer der taz-Köche, hieß es, sei zum Buddhismus konvertiert und weigere sich nun, Fleisch und Fisch anzufassen.

Hintergrund war die merkwürdige Sache mit dem vegetarischen Freitag. Lange Zeit war die Speisekarte im taz Café katholisch inspiriert gewesen: Freitags gab es Fisch. Das widersprach zwar der antireligiösen Haltung, die man der taz nachsagt, war aber eine schöne Tradition – bis das System urplötzlich über den Haufen geworfen wurde: Der Freitag wurde vegetarisch, der Fisch auf den Donnerstag geschoben. Warum, wusste niemand so genau, also entstand – irgendwo, irgendwie – die Legende vom buddhistischen Koch.

Doch Schluss damit, es wird Zeit, sich an den Pressekodex zu halten! Auf zur Recherche.

Wir gehen runter in die Küche, stellen Fragen, finden den Koch, der freitags Dienst hat: Carlo Rossi. Er interessiert sich tatsächlich für Religionen, auch für den Buddhismus; ein Buddhist ist er aber nicht. Mit dem Buddhismus hat der vegetarische Freitag auch nichts zu tun, sondern mit einem toten Tintenfisch. Eines Tages, damals lebte er noch in Italien, aß Carlo einen Tintenfischsalat. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, den er nie zuvor gehabt hatte: „Was esse ich hier? Ein Stück von einer Leiche!“ Carlo beschloss, umgehend Vegetarier zu werden.

Jahre später kam er als Freitagskoch zur taz – und hatte es wieder mit totem Meeresgetier zu tun. Ganz wohl hatte er sich dabei nie gefühlt – der tote Tintenfisch, die leer gefischten Meere: „Als tazler sollte man sich fragen, ob es okay ist, Fisch zu essen“, sagt er.

Für Carlo wurde der taz-Kochplan umgestellt: donnerstags Fisch, freitags vegetarisch.

Die Moral war es also, nicht die Religion. Womit die taz der Wahrheit mal wieder ein gutes Stück näher gekommen ist.

SEBASTIAN GUBERNATOR