berliner szenen: Fünfzehn Minuten große Welt
Ich bin mit einem alten Freund verabredet. Am Bahnhof Spandau merke ich, dass ich spät dran bin. Die nächste S-Bahn aber fährt erst in fünfzehn Minuten. Auf der Abfahrtstafel der Bahn entdecke ich einen Zug nach Südkreuz. Erst als er auf dem Gleis einfährt, realisiere ich, dass es sich nicht um einen Regionalexpress, sondern um einen ICE handelt. Da ich nicht zu spät kommen möchte, löse ich am Automaten ein Ticket für acht Euro und steige ein.
In dem ICE ist es gedrängt voll. Ich stelle mich neben zwei Frauen an den Eingang. Alle zwei Minuten drängen Menschen durch die Tür an uns vorbei in den Gang und in die Toilette. Ich weiche auf die Treppenstufen an der Tür aus.
Das Schild „Praha Glowny – Berlin Südkreuz“ erinnert mich an meine Interrailreisen. Als Jugendliche war ich oft wochenlang ohne Ziel unterwegs und habe ganze Tage auf Zugtreppen verbracht. Glücklich, gedankenlos an einem Ort zu sein, an dem Zeit und Alltag keine Rolle spielen: nur der Moment.
Die Bahnhöfe Charlottenburg, Savignyplatz und Zoo rauschen an mir vorbei und mit jeder Station fällt ein Stück Alltag von mir ab. Ich vergesse unbezahlte Rechnungen und liegen gebliebene Haushaltspflichten und wünschte, ich könnte ewig so weiterfahren. Die Geschäftsfrau neben mir spricht meinen Gedanken aus: „Ein bisschen wie Interrail früher.“ Sie schwärmt von ihren Interrail-Reisen und davon, wie „wahnsinnig frei“ sie sich damals gefühlt habe.
In dem Moment ruft mein alter Freund an: Er verspätet sich. Die Schaffnerin kommt und stempelt meine Fahrkarte ab. Ich lächele sie an und denke, dass sich die acht Euro dennoch gelohnt haben. Und beschließe, das öfter mal zu machen: Einfach innerhalb Berlins in einen Fernzug zu steigen und für ein paar Euro in eine andere Welt einzutauchen.
Eva-Lena Lörzer
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