: Der Himmel ist möglich
Schon Eisenstein hatte als Filmmusik „Rhythmus, Rhythmus und vor allem reinen Rhythmus!“ gefordert. Nun wurde sein Wunsch von den Pet Shop Boys erfüllt: Auf der Museumsinsel gab es „Panzerkreuzer Potemkin“ mit elektronischem Getöse
VON CHRISTIANE RÖSINGER
Eine revolutionäre Stimmung lag von Anfang an über der Museumsinsel. Die Massen lagerten auf einem grünen Teppichboden, andere standen erwartungsvoll vor der Bühne. „Hinsetzen“ riefen die Sitzenden vehement in grimmigen Chören; „Aufstehen“ gaben die Stehenden zurück, und das Volk drohte sich zu entsolidarisieren. Aber als der Film begann, beruhigten sich die Gemüter.
Die Pet Shop Boys vertonen also Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“! Warum nicht? Denn spielten sie in den Achtzigern nicht immer schon mit Bolschewik-Schick und schmückten ihre Videos mit russischen Matrosen? Als dann der Leiter des Londoner Institute for Contemporary Art (ICA) 2003 bei den Pet Shop Boys anfragte, ob sie nicht für einen Sommerevent auf dem Trafalgar Square das „Battleship Potemkin“ vertonen wollten, sagten sie kurzerhand zu.
Nun kommt ein Revolutionsepos nicht ganz ohne Streichorchester aus, und so wirken auch die Dresdner Sinfoniker an der Neuvertonung mit. Eisenstein hatte sich für seinen Film alle zehn Jahre eine neue Filmmusik gewünscht und 1926 im Gespräch mit dem Komponisten Edmund Meisel „Rhythmus, Rhythmus und vor allem reinen Rhythmus!“ gefordert. Der Film wurde zum 20. Jubiläum des Matrosenaufstands von 1905 gedreht und fand sein größtes Publikum zunächst in Deutschland.
Ein „Director’s Cut“ liegt leider nicht vor, die Kopien wurden unzählige Male verstümmelt und umgeschnitten. Die internationale Zensur sah zu viel aufrührerisches Potenzial darin, die Russen ersetzten das Trotzki-Zitat zu gegebener Zeit durch eines von Lenin. Am Sonntagabend lief auf der Museumsinsel eine 73-minütige Fassung mit russischen Zwischentexten und englischen Untertiteln.
Die Musiker spielen halb verborgen hinter einem Gazevorhang, darüber die Leinwand. Die ersten Bilder sind durch ein Geigenmeer, sprich: recht konventionelle Filmmusik, unterlegt. Dann setzt, wie ein Befreiungsschlag, die Elektronik ein.
Die Lage auf der Potemkin ist prekär, die Versorgung der Leute miserabel, es gibt nur verdorbenes Fleisch, auf dem die Maden in extremer Nahaufnahme wimmeln. Die Matrosen weigern sich, das verdorbene Fleisch zu essen, die Meuterer sollen hingerichtet werden. Da- und Njet-Chöre liegen über den Bildern der bewaffneten Matrosen, der tapfere Wakulitschuk ruft ein beherztes „Brüder, auf wen schießt ihr!“. Die Gewehre sinken. Die Offiziere werden über Bord geworfen, der harte, tanzbare Rhythmus gibt dem Gerangel etwas heiter Beschwingtes und unterstützt den dynamischen Schnitt des Films.
Neben Instrumentalpassagen, die der Dramaturgie des Films folgen, haben die Pet Shop Boys drei „Themesongs“ eingebaut. „No time for tears“ heißt es, als Wakulitschuk den Märtyrertod stirbt, in Odessa an Land gebracht und aufgebahrt wird. In kurzen Gesangseinschüben klagt Neil Tennant immer wieder in höchsten Tönen „Brothers, Sisters!“, fordert „Freedom“ und „One for all, All for one“.
Die berühmte sechsminütige Treppenszene ist das Herzstück des Films. Das musikalisch elegische Motiv geht in eine melancholische Pianoballade über. Neil Tennant tritt ans Mikrofon, Chris Lowe hält sich irgendwo hinter dem Apple-Altar verschanzt. „How come we went to war“ singt Tennant, als die Kosaken das Feuer auf die Menge eröffnen. Herzzerreißende Szenen spielen sich ab, der berühmte Kinderwagen rollt die Treppe hinab, über all dem der Song „Heaven is still possible“.
„Musik wie Pistolenschüsse“ hatte sich Eisenstein für den fünften Akt, die Konfrontation der Potemkin mit der russischen Flotte, gewünscht, und das ist für ein Elektronikduo natürlich ein Leichtes. Der maschinenartige stampfende Rhythmus, der sich immer mehr beschleunigt, passt sehr gut zu der alternierenden Montage von schiebenden, pumpenden Maschinen, postierten Matrosen und feindlichen Schiffen. Die Matrosen der anderen Schiffe solidarisieren sich, und so können am Ende erhebende Synthieklänge in schönstem Bombastkitsch den Sieg der Freiheit verkünden.
Die Pet Shop Boys haben, nach Edmund Meisel, Dimitrij Schostakowitsch und Nikolai Krukow, die vierte offizielle Filmkomposition für „Panzerkreuzer Potemkin“ geschaffen. Auch wenn manchmal die zeitgenössischen Beats im interessanten Gegensatz zur expressionistischen Schauspielkunst stehen, so ist die Kombination der rhythmischen Schnitttechnik Eisensteins mit dominanten Elektrobeats doch durchaus gelungen. Echte und synthetische Geigen, Industrial und klassische orchestrale Score-Musik mischen sich recht gut.
„The End“ sagt schließlich der englische Untertitel auf der Leinwand, der Sänger bedankt sich artig und stellt Orchester und Dirigent vor. Als Zugabe gibt es noch einmal den Themesong „No time for tears“. Manch einer der Pet-Shop-Boys-Fans hätte sich zum Schluss wohl noch ein paar Hits wie „West End Girl“ gewünscht, aber das hätte nun wirklich nicht gepasst.