: Aus der dritten Richtung
FILM Fünf Tage lang wurde auf dem „Think: Film“-Kongress in der Akademie der Künste über die Zukunft des Experimentalkinos diskutiert. Den Anfang machte „Traité de bave et d’éternité“ von Isidore Isou
VON ANDREAS RESCH
Im Allgemeinen wird in der Filmgeschichtsschreibung zwischen zwei Richtungen unterschieden: zwischen der von den Brüdern Lumière eingeschlagenen realistischen mit ihren dokumentarischen Aufnahmen von Fabriken, einfahrenden Zügen und Menschen im Großstadtgewimmel. Und der fantastischen, etabliert durch George Méliès’ „Reise zum Mond“ aus dem Jahr 1902. Für den 2003 verstorbenen US-amerikanischen Experimentalfilmer Stan Brakhage gibt es noch eine dritte Richtung, „das Rückgrat“, wie Brakhage schreibt, das „die beiden Flügel“ – den Lumière’schen und den Méliès’schen – zusammenhält. Dieses Rückgrat ist für Brakhage der Film „Traité de bave et d’éternité“ des französischen Dichters und Lettrismus-Begründers Isidore Isou aus dem Jahr 1951. Ein Film, in dem Bild und Tonspur eine über weite Strecken voneinander unabhängige und zum Teil alles andere als friedliche Koexistenz führen.
Referenzspirale US-Serien
Teilt man Brakhages Ansicht, ist es nur folgerichtig, Isous Film an den Anfang eines Kongresses zum experimentellen Kino zu stellen. Der „Think: Film. International Experimental Cinema Congress“, organisiert vom Arsenal – Institut für Film und Videokunst, setzte sich von Mittwoch bis Sonntag in der Akademie der Künste mit aktuellen Fragen des Experimentalkinos auseinander. Wobei der Kongress dezidiert nicht als Werkschau gedacht war, sondern als Möglichkeit zur Neuverortung des experimentellen Kinos innerhalb des Mediums Film.
Unter dem Titel „The Edge of Narration“ ging es am Donnerstag um die Verbindungen zwischen Experimentalkino und US-amerikanischen Edelserien. In diesem Zusammenhang wurden Ausschnitte aus aktuellen und historischen Formaten gezeigt. In einem Videoclip etwa feiern drei Sänger im mexikanischen Narcocorrido-Stil die Heldentaten von Walter „Heisenberg“ White, dem an Lungenkrebs erkrankten Meth-Produzenten aus „Breaking Bad“. Und in einem Ausschnitt aus Tom Fontanas Gefängnisserie „Oz“, der ersten einstündigen HBO-Drama-Serie überhaupt, monologisiert der im Rollstuhl sitzende Häftling Augustus Hill in extrem stilisierten Passagen über die sich gerade in der Serie abspielenden Geschehnisse.
So viel Spaß es auch machte, sich diese und andere Ausschnitte – eine Kinoszene aus „Mad Men“, eine Traumsequenz aus den „Sopranos“ – anzuschauen, so wenig erhellend war es letztlich. Denn auch wenn die gezeigten Beispiele ästhetisch auf die ein oder andere Weise vom Experimentalfilm beeinflusst sein mögen: Tatsächlich beziehen sich solche Einflüsse ja immer nur auf einige wenige Passagen innerhalb bestimmter Episoden – und nicht auf deren grundlegenden Erzählstil.
Gewinnbringender wäre es etwa gewesen, einmal der Frage nachzugehen, inwiefern Serien wie „Homicide“ oder, später, David Simons „The Wire“ durch ihren extremen erzählerischen Realismus, der ja lange Zeit im Fernsehen geradezu verpönt war, zu hochgradig experimentellen Formaten geworden sind.
Am Freitag ging es in einem Panel um Städtedarstellungen im Experimentalfilm. Die in diesem Zusammenhang gezeigten Filme schlugen interessanterweise oft den Weg des Pars pro Toto ein. Etwa Thom Andersens tolle L.A.-Studie „Get out of the Car“, in der die Stadt nur über ihre Gebäude und Schilder erzählt wird. Zwei Favoriten: „Dream Center“ und, besonders schön, „Hair Studio Obama“.
Jenseits des Mainstreams
Am Sonntag schließlich diskutierten der Berliner Produzent und Verleiher Frieder Schlaich, die in New York lebende Exilkubanerin Ela Troyano, die indische Filmemacherin Shai Heredia und der aus Kairo stammende Regisseur Tamer El Said über Wege der Distribution von Filmen fernab des Mainstreams. Schlaich sagte, er verfolge trotz widriger Bedingungen noch immer das Ziel, auch experimentellere Werke in die Kinos zu bringen. Heredia erzählte von den vielen Künstlerkollektiven in ihrer Heimatstadt Bangalore. Und El Said berichtete von der Unmöglichkeit, Fördermittel für seine Werke zu akquirieren. Dies habe sich zwar nach der ägyptischen Revolution geändert – allerdings in einer pervertierten Art und Weise: Plötzlich wolle ihm jeder Geld für einen Film über die politischen Ereignisse in seinem Land geben. Dieses Panel war ein interessanter Schlusspunkt für den Kongress, da offenbar wurde, wie absurd Filmpolitik auf der ganzen Welt sein kann und dass sich dennoch immer wieder Lösungen finden lassen, um das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen.