Im krassen Fundus der Wirklichkeit

ABSTÜRZE Dirk Laucke geht liebevoll mit seinen Figuren um – auch wenn sie Arschlöcher sind. Mit seinen Stücken über Schieber und Hooligans ist der 27-Jährige gerade der Dramatiker der Stunde

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Suche Zigaretten, finde Chinesen. Einen ganzen Lkw voll. So geht es dem Schmugglerpärchen Jo und Anna an der deutsch-tschechischen Grenze in Dirk Lauckes Drama „Für alle reicht es nicht“. Ganz nervös macht einen das Stück beim Lesen. „Macht endlich den Lkw auf und lasst die Menschen raus“, möchte man den Protagonisten zurufen; die aber befürchten, bei jeder Hilfe für die Illegalen selbst als Schleuserbande dran glauben zu müssen. Und während sie noch diskutieren, setzt sich anstelle des Mitleids mit den Migranten immer mehr das Selbstmitleid mit ihren eigenen Geschichten als Verlierer im Vor- und Nachwende-Deutschland durch.

Solidarität unter den Ärmsten? Von wegen. Die Sympathie, die einen eingangs bald für Lauckes beschädigte Figuren mit ihren kleinen Tricksereien, heruntergekochten Wünschen und skurrilen Fähigkeiten der Anpassung eingenommen hat, wird auf eine harte Probe gestellt. Es ist der härteste Text, den Dirk Laucke, 27, bisher geschrieben hat. Dass die, die nach Europa kommen wollen, dabei überhaupt nicht sichtbar werden als Individuen auf der Bühne, entspricht für den Autor unserem Umgang mit dem „Massengrab Mittelmeer“. Die umkommen bei dem Versuch, in Europa ein besseres Leben zu finden, bleiben doch eine abstrakte Zahl, Menschen ohne Gesicht.

„Für alle reicht es nicht“ ist das vierte Stück, das von Laucke in diesem Jahr uraufgeführt wird, und sein vierter Stückauftrag. Acht hat er geschrieben, seit er 2005 zusammen mit zwei Kommilitoninnen des Studiengangs Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste für das Grips Theater „Hier geblieben!“ entwickelte, die Geschichte einer Minderjährigen, die abgeschoben werden sollte. Damals „habe ich gecheckt, wie krass der Fundus der Wirklichkeit ist“, sagt er heute.

Ein erfolgreicher junger Dramatiker. Aber auch ein von Termindruck gehetzter, dem etwas mehr Zeit für jeden Text auch guttäte. Seine Lektorin Anke See vom Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb seufzt, wenn sie an das Dilemma zwischen Abgabeterminen und der Notwendigkeit der Honorare denkt. Bei einem Symposium kürzlich in Berlin zum Thema „Schleudergang Neue Dramatik“ fiel Lauckes Name oft als Beispiel dafür, dass die wirtschaftliche Lage der Bühnenautoren auch mit Förderungen und Aufträgen prekär bleibt. Laucke selbst nahm nicht an dem Symposium teil, sondern an einer zeitgleichen Tagung in Łódź. Dorthin war er eingeladen über sein Stück „Ultras“ zu erzählen im Kontext von Fußballfans und Antisemitismus.

„Noch nie in meinem Leben habe ich so viele politische Diskussionen geführt wie während der Arbeit an ‚Ultras‘“, erzählt Dirk Laucke beim Treffen in einer Kreuzberger Kneipe, wenige Schritte neben der Kita seines Sohnes. Laucke ist in Halle geboren und dorthin ging er zurück für die Arbeit an einem Stück über Hardcore-Fans des FC Halle, das er semidokumentarisch mit den Jugendlichen zusammen entwickelte und auch inszenierte. Für ihren Fanatismus und ihre Gewaltbereitschaft sind die Ultras berüchtigt; warum ihre Liebe zu einem viertklassigen Verein und ihre Identität nicht ohne das auskommt, wollte Laucke herauskriegen. Doch mit der Inszenierung geriet er zwischen die Fronten. Die Stadtpolitik wollte so genau dann doch nicht öffentlich dargestellt sehen, wie Rechte ticken. Und die Ultras selbst diffamierten ihn auf ihren Websites als Verräter. „Experiment gelungen“, befand die Intendantin des Thalia Theaters Halle, Annegret Hahn, trotzdem in einem offenen Brief: Die Reaktion der Fans auf das Stück zeige ihre Verunsicherung und die Stadt sähe sich gezwungen zu debattieren, was ihr als Problem schon lange schwant.

Allein mit dem pädagogischen Zaunpfahl zu winken, ist Dirk Lauckes Sache gerade nicht. Seinen Figuren mangelt es zwar oft an Bildung, aber nicht an Erfahrung, wie die Medien und die Politik aus dem Abstempeln von Milieus Kapital schlagen. Den „Ultras“ war in Halle ein anderes, mit Jugendlichen eines vernachlässigten Stadtteils erarbeitetes Stück vorausgegangen, „Silberhöhe gibt’s nicht mehr“, das mit der Gier nach dem Authentischen gewitzt spielte. Ecky will als Bewerbung für eine Filmhochschule mit seinen Freunden einen Film drehen, der die vorhersehbaren Klischees von der Plattenbausiedlung erfüllt – und die Kids inszenieren sich als Ghettomarke.

Liest man zwei, drei seiner Stücke hintereinander, scheinen sie Teil eines großen Projekts, die neuralgischen Punkte deutscher Identität abzuscannen. Ob er mit seinen Geschichten einen moralischen Auftrag abarbeite, frage ich Laucke und er reagiert ein wenig entsetzt: „Nee“, sagt er, „ich bin nicht so schlau, dass ich Auswege weiß.“ Aber was er weiß, ist, dass er liebevoll mit seinen Figuren umgehen muss, auch wenn sie Arschlöcher sind. Er will wissen, was in ihnen vorgeht, und wenn sie sich dann als verblendet entpuppen, dann muss er da durch und leidet mit.

Was ihn als Stückautor so attraktiv macht fürs Theater, ist die emotional hoch aufgeladene Sprache: jeder Satzfetzen erfahrungssatt, innerlich vibrierend, nicht nur in den Dialogen, sonder auch da, wo sie im gleichen erregten Sprachduktus erzählen, was passiert, und kommentieren. Seine Figuren, Kleinkriminelle, Exknackis, ehemalige Drücker, traumatisierte Soldaten, leiden an Aggressionsschüben und der Ahnung, sich selbst damit am meisten in die Pfanne zu hauen. Wie sie versuchen, da rauszukommen, und es manchmal fast schaffen, ist meistens auch spannend erzählt, mit zeitlichen Verschachtelungen und blöden Zufällen im falschen Moment, die genau genommen tragisches Ausmaß annehmen.

Punk ist deutlich eine Schule für den Rhythmus und das Tempo der Dialoge Lauckes. In „Wir sind immer oben“, 2007 in Essen uraufgeführt, sind es die Eltern von Sven, der einen Plattenladen in einer Laube aufmachen will, die sich nach langer Trennung und Zwist wiederfinden unter dem Motto „biertringen und punkrock hörn, das ist unsere welt“. Der Lottogewinn kommt nicht, der Weltuntergang auch nicht, eine dritte Perspektive, dem Absturz zu entgehen, finden sie erst mit Hilfe des Sohns, der aus der Stadt in die Provinz zurückgekehrt ist. Warum, fragen sich alle: Offenbar, weil er sein Glück nicht damit erkaufen wollte, die Eltern sich selbst auf ihrem Weg nach unten zu überlassen, so suggeriert das Stück.

Jede Szene ist mit einem Musiktitel überschrieben, von den Smiths, Joy Division und DAF bis zur Ostband Müllstation. Die sind im Osten, in der DDR, geblieben, als sie in den Westen hätten gehen können, erzählt Laucke und das imponiert ihm. Noch eine Erklärung dafür, warum Sven, der Weggegangene, wieder zurückkommt. Die Postpunkgeneration will ihre Wurzeln nicht verraten, weil das Kappen der Wurzeln die Alten schon genug gekostet hat.

Vor allem innerlich sind Lauckes Figuren ständig in Bewegung, zwischen Ex-Lieben und Vergessenwollen, zwischen alten Freunden und versuchten Neuanfängen. Sich treiben zu lassen wäre wohl für die meisten ihre bevorzugte Existenzform, geht aber so gut wie nie. Existenzielle Entscheidungen stehen schneller an, als sie Luft holen können. „kapitalismus ist wie freie liebe zur zeit von HIV“, fasst Svens Freundin Corinna das Risiko, sich falsch zu entscheiden, einmal zusammen. Eine schwer auszuhaltende Erkenntnis.