: Der Traum vom großen Glück in der reichen Welt
Es kann die Putzfrau sein oder die Familie nebenan: „Illegale“ leben unauffällig, immer in Angst vor Entdeckung und Abschiebung. Was das heißt, erzählen „Menschen ohne Papiere“ in dem gleichnamigen Buch von Siegfried Pater. Die taz veröffentlicht den Bericht eines „Illegalen“ aus Bonn
Antonio V.
„Niemand glaubt mir hier, dass ich ein Fachmann im Gartenbausektor bin. In Lateinamerika habe ich ein Studium absolviert und im Forst- und Gartenbau gearbeitet. Der Verdienst war aber immer so schlecht, dass ich meine Familie davon nicht versorgen konnte. Und dann hatte ich gar keine Arbeit mehr. Wer kann sich hier in Deutschland schon vorstellen, was das bedeutet? Die Angst, mit der Frau und den zwei kleinen Kindern in den Slums zu landen, da man sich nicht einmal eine bescheidenste kleine Wohnung leisten kann. Ich habe mich überall beworben, sogar in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Aber ich erhielt keinen festen Arbeitsplatz. Mal hatte ich Arbeit in meiner Heimat – meist miserabel bezahlte Hilfstätigkeiten – mal wieder keine. Die Familie konnte ich nie zu mir holen. Das wäre zu teuer gewesen und auch nicht wirklich planbar, da ich ja nie wusste, wann ich wieder weiterziehen musste.
Dann wurde ein Kind krank. Wir mussten uns Geld leihen, um es behandeln zu lassen. Da dachte ich mir, jetzt kann uns nur noch eine Arbeit in der reichen Welt helfen. Immer und immer wieder erzählten mir ähnlich betroffene Menschen vom großen Glück, wenn man in der reichen Welt, also in den USA oder Europa, Geld verdienen kann. Wegen der Wechselkurse sei das Geld von dort, auch wenn man wenig verdient, in Lateinamerika sehr viel wert. Dann wäre man alle Sorgen los. Ich dachte, jetzt muss etwas passieren. Verschuldet war ich sowieso, da kann ich nur noch herauskommen, wenn ich etwas riskiere. Spanien oder Deutschland wurden von den meisten empfohlen. Spanien wegen der Sprache und dem Wetter, und Deutschland, weil die Menschen dort sehr hilfsbereit mit Illegalen umgehen.
Aber um dahin zu kommen, musste ich mich erst einmal noch mehr verschulden. Die erste Zeit werde ich in dem fremden Land nur für mein Flugticket arbeiten müssen, das war mir klar. Ich wagte es.
Jetzt bin ich drei Jahre hier, bin 38 Jahre alt, habe manchmal Arbeit, manchmal nicht. Ich schneide Bäume, Hecken, mähe den Rasen und grabe den Boden um. Mal bekomme ich 5 Euro, mal 7,50 Euro pro Stunde. Wenn ich etwas Geld für den Busfahrschein bekomme, freue ich mich sehr, denn man hat hohe Kosten hier in Deutschland. Es ist alles sehr teuer. Davon hatte mir niemand etwas erzählt. Ich lebe sehr sparsam, habe nur ein Bett und einen kleinen Schrank in einer Wohngemeinschaft. Beim Essen spare ich auch. Manchmal trinke ich einen billigen Wein von ALDI. Der ist aus Chile und schmeckt sehr gut. Dann träume ich von Zuhause, von meiner Frau und meinen Kindern, die ich nun schon drei Jahre nicht gesehen habe. Also nicht wirklich, nur auf Fotos. Diese Fotos schickt mir meine Frau an die Adresse eines deutschen Freundes. Vorsichtshalber machen wir das so, damit niemand meinen Wohnsitz erfährt. Diese Bilder schaue ich mir dann an und werde ganz traurig. Dann höre ich auf, den guten chilenischen Wein zu trinken, sonst bemitleide ich mich nur immer mehr. Und morgen ist wieder ein Tag, an dem ich arbeiten oder Arbeit suchen muss.
Was mich bei meiner Arbeit am meisten deprimiert ist der Umstand, dass mir niemand zutraut, von Gartenarbeit Ahnung zu haben. Auch wenn ich es sage. Der Herr des Hauses, der in einer Computerfirma arbeitet, erklärte mir neulich zum Beispiel, wie ich die Bäume schneiden soll. Leider aber völlig falsch, denn Bäume richtig zu schneiden ist schon eine Kunst, die er nun mal nicht beherrscht. Ich stehe vor der Wahl: Setze ich meine Vorschläge durch, bekomme ich Ärger, führe ich den falschen Schnitt durch, kann ich stressfrei, ohne Ärger arbeiten.
Kämpfte ich anfangs noch für eine artgerechte Arbeit an den Bäumen, so gebe ich in letzter Zeit immer mehr auf. Das kränkt mich in meiner Berufsehre und mündet in Groll gegen die reichen „Besserwisser“, von denen ich abhängig bin.
So vergehen die Tage, Wochen, Monate, Jahre. Nie hätte ich gedacht, dass ich so lange bleibe. Aber ich denke immer, noch habe ich nicht genug verdient. Vor allem, wenn ich mal wieder keine Arbeit hatte, nur die Auslagen bezahlen musste, möchte ich unbedingt wieder arbeiten, um wieder etwas Geld zu haben. Denn ich will und muss meiner Familie Geld überweisen. Und zwar für die Schuldentilgung und fürs Überleben.
Wie oft stand ich schon am Bahnhof am Schalter der Western-Union-Bank? Inmitten der vielen Ausländer, die wie ich kein Konto haben, deshalb bar überweisen müssen. Wie oft habe ich mich über die unverschämt hohen Überweisungsgebühren geärgert, wenn ich das Formular ausfüllte? Die verdienen am meisten an den Menschen ohne Bankkonten. Aber eigentlich bin ich ja froh, dass ich überhaupt meiner Frau das Geld schicken kann. Aber ein Konto hätte ich schon gerne, denn ohne bist du kein Mensch.“
Auszug aus dem Buch „Menschen ohne Papiere“ von Siegfried Pater, RETAP-Verlag, Bonn 2005, ISBN 3-931988-12-0Der Autor und die Vorsitzende des Bonner Arbeitskreises „Menschen ohne Papiere“, Vesna Varga, stellen das Buch heute Abend in Bonn vor: 20 Uhr, Lokal „Bonner Republik“ (Adenauerallee 70)