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Archiv-Artikel

Auch Analphabeten haben keine Wahl

Vier Millionen Menschen mit extremer Lese- und Schreibschwäche wissen zu wenig über die Bundestagswahlen

Analphabeten fehlen offenbar trotz Radio und Fernsehens ausreichende Informationen für ihr Kreuzchen bei Wahlen. Vielfach verzichten sie deshalb ganz darauf, an den Bundestagswahlen teilzunehmen. „Menschen mit Schreib- und Leseproblemen haben wegen ihres Informationsdefizits das Gefühl, nicht einschätzen zu können, für wen sie sich entscheiden sollen“, sagte Peter Hubertus. Der Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung äußerte sich vor dem Weltalphabetisierungstag am morgigen 8. September.

Erst das Lesen von Zeitungen ermögliche umfassende Informationen und gebe die Chance, Aussagen von Politikern nachzulesen und einzuordnen. Hubertus meint, „dass die schnellen audiovisuellen Medien häufig nicht ausreichen, um komplexe Zusammenhänge nachzuvollziehen und eine bewusste Wahlentscheidung zu treffen“.

Auch belesene Wähler nähmen sich nur selten Zeit, die verschiedenen Wahlprogramme zu studieren. Dennoch hätten sie eine große Chance, Positionen der Parteien nachzulesen, zu überdenken und sich eine eigene Meinung zu bilden. Bei den Millionen so genannter funktionaler Analphabeten in Deutschland sieht der Experte zudem eine größere Gefahr, dass sie sich von Fernsehbildern blenden lassen, etwa von Wahlkampfauftritten, die mehr auf Emotionen und Sympathiewerte setzen.

Funktionale Analphabeten sind Menschen mit nur unzureichenden Schreib- und Lesekenntnissen. Sie können einen Text zwar lesen – verstehen aber den Inhalt meist nicht. Weltweit gibt es 785 Millionen Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Über 70 Prozent aller erwachsenen Analphabeten leben in nur neun Ländern der Erde, darunter Länder wie Indien und China. In Deutschland gelten geschätzte 4 Millionen Menschen als funktionale Analphabten. Und der Nachschub geht nicht aus. Jährlich verlassen allein 80.00 Jugendliche Deutschlands Schulen ohne Abschluss. Die meisten von ihnen haben erhebliche Probleme mit dem Lesen und Schreiben.

Hubertus forderte eine verstärkte politische Bildung in Lese- und Schreibkursen. „Es sollten nicht nur Wörter erlernt werden, um Formulare auszufüllen, sondern auch gesellschaftspolitische Themen behandelt werden“, forderte er. Auch Zeitungen könnten Menschen mit Schreib- und Leseschwächen besser bedienen. Vorbild sei die Presse in den USA, die in bestimmten Rubriken statt der hochgradig verdichteten Schriftsprache einen leichteren Stil mit einfachen Wörtern und Satzstrukturen eingeführt hätte. DPA

Veranstaltungen zum Alphabetisierungstag: Multiplikatorenseminar, heute 11–13 Uhr, Treffpunkt Klett Berlin. Zimmerstr. 23, 10969 Berlin. Und morgen, 8. September, 11–14 Uhr Vertretung des Saarlandes beim Bund. In den Ministergärten 4, 10117 Berlin.