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Archiv-Artikel

Eine Landschaft in Le Gras

SCHNAPPSCHUSS Die Ausstellung „Die Geburtsstunde der Fotografie“ in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zeigt die älteste fotografische Aufnahme der Welt

VON STEFFEN SIEGEL

Zu den viel zitierten Sätzen der Fotografie-Geschichte gehört ein bemerkenswerter Seufzer. Als Direktor der Hamburger Kunsthalle war Alfred Lichtwark bereits im späten 19. Jahrhundert ein vorausschauender Förderer der Fotografie. Tatkräftig sorgte er dafür, dass früher als an anderen Orten auch im ehrwürdigen Museumssaal diese Bilder betrachtet werden konnten. Dass sie über kurz oder lang ohnehin ein eigenes „Kapitel in einer künftigen Kunstgeschichte bilden müssen“, stand für ihn außer Frage. Umso besorgter aber beobachtete Lichtwark, dass ein in jener Zeit noch weit verbreitetes Desinteresse in den Museen und Universitäten dafür sorgte, dass wertvolle Dokumente aus den Anfangsjahren der Fotografie fortlaufend verloren gingen und gerade dann nicht mehr vorhanden sein würden, „wenn die immer einen Posttag zu spät aufwachende Wissenschaft sich danach sehnt“.

Urgeschichte des Mediums

Seltsamerweise hat Lichtwark mit dieser begründete Sorge zu gleicher Zeit recht behalten und doch auch wieder nicht. Denn vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen insbesondere in Frankreich, England und Deutschland einige Enthusiasten damit, systematisch nach jenen Bilder, Apparaten und Dokumenten zu fahnden, die von die Ur- und Frühgeschichte dieses Mediums erzählen können. Es ist dies aber auch gerade jene Zeit, in der man in Europa andere Sorgen hatte, als Archive zu gründen und Museen zu eröffnen, die diese wertvollen Sammlungen hätten sichern können.

Vieles von dem, was zwischen den Weltkriegen zusammengetragen wurde, ist daher ins seinerzeit friedlichere und finanzkräftigere Amerika verkauft worden und befindet sich heute an Orten, die eher selten auf der üblichen Reiseroute von Touristen liegen: in Städte wie Rochester, unweit der Niagara-Fälle, oder wie Albuquerque in New Mexico.

Noch bis zum Beginn des nächsten Jahres aber lässt sich eine dieser Reiserouten erheblich abkürzen. Wer sich auch nur am Rande für die Geschichte der Fotografie interessiert, sollte es keinesfalls versäumen, im Mannheimer Forum Internationale Photographie die Sammlung von Helmut und Alison Gernsheim anzuschauen. Normalerweise muss man für diese Kollektion mit Bildern vor allem aus den ersten hundert Jahren der Fotografie bis nach Austin in Texas fahren.

Vor einem halben Jahrhundert verkauften die beiden Pioniere der Fotoforschung das bis dahin Zusammengetragene an die University of Texas – und ergänzten diesen Kauf um ein Geschenk der ganz besonderen Art. Was sich auf den ersten Blick als eine genauso verschmutzte wie zerkratzte Metallplatte mittlerer Größe ausnimmt, dürfte tatsächlich der älteste noch erhaltene Versuch einer fotografischen Aufnahme sein. Helmut Gernsheim hatte dieses verloren geglaubte Bild im Januar 1952 in England nach langer Suche und mit kriminalistischen Gespür wiederentdeckt.

Es war der von seinem Dienst in der französischen Armee pensionierte Nicéphore Niépce, der ungefähr seit 1816 mit den Möglichkeiten einer fotografischen Reproduktion experimentierte. Vermutlich im Jahr 1826 schließlich stellte er eine Camera obscura auf das Fensterbrett seines Arbeitszimmers, öffnete den Verschluss der Linse und musste sodann mehrere Stunden geduldig warten. Was sich auf die mit einer dünnen Asphaltschicht behandelte Platte im Innern der Kamera einschrieb, kann wirklich nicht als Schnappschuss bezeichnet werden. Doch macht es die hervorragende Präsentation in Mannheim möglich, dieses wohl spektakulärste Bild aus der Frühzeit der Fotografie nicht allein zu bestaunen, sondern ganz genau zu betrachten. Sieht man nur ganz genau hin, so zeichnet sich zwischen den geöffneten Fensterflügeln der Innenhof und die dahinter liegende Landschaft von Niépce’ Anwesen in Le Gras ab.

Kein Kompendium zur Geschichte der Fotografie, natürlich auch jenes der Gernsheims nicht, verzichtet darauf, dieses Bild zu reproduzieren. Fast immer jedoch ist in diesen Büchern gar nicht die schwer zu durchdringende Heliographie von Niépce abgedruckt, sondern vielmehr eine von Helmut Gernsheim angefertigte Nachzeichnung dessen, was er in diesem Bild zu sehen glaubte. Dankenswerterweise lassen sich in Mannheim diese verschiedenen „Redaktionen“ der „ersten Fotografie der Welt“ nun direkt mit dem Original kritisch vergleichen. Umso merkwürdiger aber bleibt, dass beinahe alle Bildunterschriften in dieser überreichen Ausstellung in Form von Zitaten aus Gernsheims Büchern präsentiert werden. Statt sich auf diese fortgesetzte, leider nur wenig informative Hommage an den wegweisenden Sammler einzulassen, sollte man besser auf den eigenen kritischen Blick vertrauen. Zu sehen gibt es allemal genug!

■ „Die Geburtsstunde der Fotografie. Meilensteine der Gernsheim-Collection“. Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Forum Internationale Photographie. Bis 6. Januar 2013. Katalog im Kehrer-Verlag, 29,90 Euro