: Rebellen im Weinberghäusle
Der Stuttgarter Wind of Change bläst auch der alten Tante IHK um die Nase. Mehr als 20 Rebellen haben es in die neu gewählte Vollversammlung der Industrie- und Handelskammer geschafft. Und schon kündigt Präsident Müller seinen Rückzug an
von Susanne Stiefel (Text) und Joachim E. Röttgers (Fotos)
Die muntere Revoluzzer-Initiative Kaktus jubelt. Sie hat 22 von 100 Sitzen erobert. „Und außerdem sind wir in vielen Berufsgruppen die Stimmenkönige“, sagt ihr Sprecher Thomas Albrecht. Jetzt soll sich vieles ändern. Doch in der Beletage der Industrie- und Handelskammer Stuttgart gibt man sich betont gelassen. Er fürchte weder Diskussionen, noch leide er an einem Kulturschock, so IHK-Hauptgeschäftsführer Andreas Richter. „Nein“, sagt er, „in der Vollversammlung wurde schon immer viel diskutiert.“ Das klingt ein bisschen wie Pfeifen im Walde.
Denn sicher ist, dass in der Rems-Murr-Bezirksversammlung bald der rauschebärtige Landschaftsgärtner Frieder Bayer, der gerne in Strickpulli und Birkenstocksandalen auftritt, dem Stihl-Geschäftsführer Bertram Kandziora und Kärcher-Chef Hartmut Jenner Kontra gibt. So viel zum Kulturschock. Sicher ist auch, dass sich 22 rebellische Vollversammlungsmitglieder nun für den Kampf um mehr Transparenz und Demokratie rüsten.
Es war die IHK selbst, die Geburtshilfe für die neue Liste leistete. Der Groll über die Zwangsmitgliedschaft, über undurchsichtige Wahlverfahren und Geheimpolitik rumorte bei vielen IHK-Mitgliedern schon lange. Doch es war die plakative Befürwortung des Großprojekts S 21, die aus individuellem Grollen einen politischen Zusammenschluss schweißte. Das Banner („S 21 – mehr Jobs, mehr Tempo, mehr Stadt“) vor dem Hauptquartier in der Jägerstraße musste laut richterlichem Beschluss im August 2011 abgehängt werden. Und viele IHK-Zwangsbeglückte, darunter auch Engagierte im Verbund Unternehmer gegen S 21, hatten nun endgültig genug. Die Kaktus-Liste war geboren, die sich nicht im Weinberghäusle, sondern im Stuttgarter Forum 3 traf, um den Aufstand zu organisieren. Lieber die anderen ärgern als sich selber, lautete die Devise.
Klaus Steinke ist kein Handaufleger oder Steinebesprecher, wie Andreas Richter manche Kaktus-Kandidaten schon vorsorglich ins Esoterikfach entsorgte. „Verhandeln, Kommunikation und Rhetorik“ steht auf der Visitenkarte des Unternehmensberaters, und diese Fähigkeiten will der frisch gewählte Kaktus-Kandidat in die Vollversammlung einbringen. Steinke, stets in korrektes Tuch gekleidet, ist überzeugter Befürworter des Kopfbahnhofs und ärgert sich schon lange darüber, dass seine Organisation in seinem Namen und mit seinem Beitrag offensiv für den tiefer gelegten Bahnhof wirbt.
Steinke kritisiert beispielsweise die IHK-Umfrage zu S 21 als tendenziös und sieht sich darin bestätigt von der Universität Hohenheim, die schon die Fragestellung als „unbalanciert“ bewertet. Steinke will eine Neupositionierung seiner Organisation zum umstrittenen Bahnhofsprojekt unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse wie Brandschutz, Kostensteigerung und Schlichtungsergebnis. Er will eine erneute Prüfung, ob S 21 wirklich der Fortschritt ist, den die IHK immer beschwor, und nicht eher ein Rückbau, eine Abkoppelung der Region. „Ich will das Fass noch einmal aufmachen“, kündigt Steinke an.
Steinke hat übrigens in der gleichen Berufsgruppe wie der amtierende Präsident Herbert Müller kandidiert. Steinke kam auf Platz drei, Müller auf Platz elf und wurde damit nicht in die Vollversammlung gewählt. Er erklärte am Dienstag seinen Rückzug aus den Gremien der IHK zum Ablauf der Wahlperiode 2012. In der konstituierenden Vollversammlung im Februar 2013 wird nun der neue Präsident gewählt. Das IHK-Präsidium wartet auf Vorschläge aus der Unternehmerschaft. „Die Wutunternehmer haben zugeschlagen“, so Müllers Kommentar nach seiner Wahlschlappe.
„Süß“, meint Thomas Albrecht, „manche Leute muss man nur reden lassen.“ Als Wutunternehmer hat sich der Sprecher der Kaktus-Gruppe nie gesehen, auch wenn er manches Mal wütend wurde über die „wandlungsunfähige wirtschaftliche Selbstorganisation“, in der er als Unternehmensberater sein muss. Er will, dass die Kammer sich in strittigen politischen Fragen zurück- und ansonsten an demokratische Gepflogenheiten hält. Er will die Zusammensetzung der Wahlgruppen diskutieren, das Wahlverfahren und die Diskussionen öffentlich machen. Das sieht auch der Bundesverband für freie Kammern (BffK) so, der mit dem neu erschienenen Kammerbericht 2012 für mehr Transparenz sorgen will.
Symbol für die kritisierte Geheimpolitik der IHK ist das Stuttgarter Weinberghäusle, das durch den Streit um Stuttgart 21 bundesweit Berühmtheit erlangte. Das kleine Häusle inmitten der IHK-eigenen Reben und mit Blick auf den Hauptbahnhof war schon Kulisse mehrerer Krimis („Tatort“) und Theaterstücke. Aber vor allem steht es symbolisch als Tatort für das Bahnhofsprojekt. Hier soll der Beschluss gefasst worden sein, den Stuttgarter Bahnhof in den Untergrund zu versenken. Hier, im rustikalen Gewölbekeller, soll im kleinen Kreis und im harmonischen Dreiklang von Wirtschaft, Politik und Medien auf das umstrittene Projekt eingeschworen worden sein. Namen werden keine genannt, fotografiert werden darf bei diesen Runden selbstverständlich nicht. Nur so, sagt Hauptgeschäftsführer Richter, könne man sich ungestört austauschen und frei von jeder politischen Korrektheit die Gedanken fliegen lassen.
Rütteln am Weinberghäusle also demnächst die Kaktus-Rebellen? „Die Vollversammlung findet im Saal statt, nicht im Weinberghäusle“, erläutert Richter sicherheitshalber für alle, die nicht wissen sollten, dass dort im Keller bei Wein und Essen nur 14 Personen Platz finden. „Das Modell Weinberghäusle entspricht nicht unserem Politikstil“, betont Steinke. Die Politik der geheimen Absprache zwischen Wirtschaft, Medien und Politik wollen die Kaktus-Rebellen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen. „Wir machen vielleicht mal Führungen und erzählen, was dort früher alles ausgemauschelt wurde“, sagt Klaus Steinke. Das Weinberghäusle als Museum. Darauf arbeiten die Rebellen hin.