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Archiv-Artikel

Schritt für Schritt nach Zürich

Wer wandert denn schon im Schweizer Mittelland, wenn die Alpengipfel locken? Eine Wanderung auf den Spuren des Emmentalers von Bern nach Zürich ist fast genauso schweißtreibend. Die Metropole liegt auf einmal nicht 58 Minuten von Bern entfernt, sondern über dreißig Stunden

von SAMIRA ZINGARO

24.000 Personen befördert die Bundesbahn Schweiz täglich von Bern nach Zürich. Es ist die meist befahrene Zugstrecke des Landes. Im Halbstundentakt düst die Bahn in 58 Minuten von der Haupt- in die Großstadt. Für viele Pendler eine langweilige Routine, ein Katzensprung. Unvergesslich hingegen ist diese Strecke im Schneckentempo: Zu Fuß braucht man fünf bis sechs Tagen von Bern nach Zürich. Zirka dreißig Stunden wandert man auf einsamen Wald- und Wiesenwegen über die sanften Hügel des unspektakulären Schweizer Mittellandes. Doch diese Wanderroute ist mindestens so attraktiv wie eine Trekkingtour im Atlasgebirge.

Die ersten Schweißperlen glänzen an der Endstation der Tram Nummer 9 in Bern. Mir kommen die ersten Zweifel: Wäre das Graubünden für eine Wanderung nicht geeigneter, das Tessin nicht sonniger gewesen? Wird Zürich jemals in Sichtweite sein? Kurz vor dem neu eröffneten Paul-Klee-Zentrum erreiche ich den ersten Waldabschnitt. Früh morgens führen hier Hundebesitzer ihre Lieblinge Gassi. Stunden später treffe ich im Wald höchstens noch auf vereinzelte Reiter oder Förster.

Der Dentenberg zwischen den Gemeinden Gümligen und Boll liefert einen Vorgeschmack auf die Mittellandroute: Dem kurzen, anstrengenden Aufstieg folgt eine Ebene aus braungelben Gersten- und Roggenfeldern. Wiederkäuende Kühe werfen mir verständnislose Blicke zu. Mächtige Berner Bauernhäuser verstecken sich hinter blühenden Vorgärten. Am Horizont schrumpft die Schweizer Hauptstadt auf Daumengröße. Gelegentlich das freundliche „Guete Morge“ einer Bäuerin. Die Antwort auf die Frage „Woher kommen Sie?“ weckt Erstaunen, noch mehr verwundert aber unser Ziel: „Züri?! Ganz alleine? Dort ist es aber nit so ruhig wie hier.“

Hier im Berner Emmental sind die Gasthöfe nach starken Tieren benannt, und es wird still, wenn Unbekannte die Kneipe betreten. Hier leuchten die Geranien vom Fenstersims, die Stille wird höchstens durch einen Traktorenmotor oder Kuhglocken unterbrochen. Der Käse hat noch Löcher und ist weltberühmt. Hier scheint die Welt – zumindest aus der Sicht der Stadtleute – noch in Ordnung.

Wie bei einer Schnitzeljagd führen die gelben Wanderweg-Rhomben über die sanften Hügel des Mittellandes. Angenagelt an einen Stall oder Zaun, angemalt an einem Baumstamm spornen die Schilder an: dann nämlich, wenn statt Berner auf einmal Luzerner, Aargauer und schließlich Zürcher Wanderwege angeschrieben stehen. Kanton für Kanton nähert man sich Zürich. Doch nicht nur der Bär verschwindet nach und nach von der Fahne. Stolz sind die Schweizer auf ihre unzähligen Dialekte, die sich hier unüberhörbar von einem Hof zum nächsten ändern: Aus „Grüessech“ wird auf einmal ein „Grüezi“.

Am Horizont sehe ich das Ziel. Der Muskelkater will trotz Aktiv-Gel nicht verschwinden. Das Hüftgelenk schmerzt bis ins Knie. In der luzernischen Kleinstadt Sursee ist Halbzeit. Hier erinnern mich der Bahnhof und ein Supermarktkomplex daran, dass ich eigentlich ganz in der Nähe von zu Hause bin.

Und eben doch nicht. Die Hügel werden nun flacher, die menschenleeren Wegabschnitte kürzer. Die Getreidefelder weichen den Apfelbaumplantagen. In Hitzkirch, einem 2.000-Seelen-Dorf im Kanton Luzern, gibt es nur ein Hotel, und das mit einer Stripteasestange neben dem Bett. Kurz vor Muri im Aargau zeigt sich am äußersten Rand des Horizonts plötzlich eine Fata Morgana. „Ist er’s oder ist er’s nicht?“ Ein Blick auf die Karte schafft Gewissheit: Dieser im Dunst gelegene Hügel kann nur der Zürcher Hausberg sein. Noch steht ein tüchtiger Tagesmarsch bevor.

Nun geht es Schritt für Schritt, Dorf für Dorf, Hügel für Hügel der Großstadt entgegen, bis ich auf einmal am Fuße des Zürcher Uetlibergs stehe. „Uetliberg-Kulm 1 Std. 15 Min.“ steht hier fast hämisch auf dem gelben Wanderschild. Der härteste Aufstieg der Wanderung folgt. Eine Stunde später sind schließlich alle Zweifel und Schmerzen weg. Die wunderbare Aussicht auf Zürich, die vielleicht einzige Schweizer Stadt mit Großstadtcharakter, ist krönender Abschluss der Wanderroute.

Der Anblick des Zürisees erfreut, als wäre er ein Meer. Die Metropole liegt auf einmal nicht 58 Minuten von Bern entfernt, sondern über dreißig Stunden. Irritiert blicken die Spaziergänger auf den verschwitzten Wandervogel mit den Glückstränen in den Augen. Am liebsten möchte ich ihnen zurufen: „He, schauen Sie nicht so. Ich komme nämlich aus Bern!“