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Archiv-Artikel

Die Macht des Niedergangs

Die westliche Psyche fühlt sich, und findet sich tatsächlich, am Rande eines AbgrundsDie neue europäische Verfassung muss in einer senilen Utopie gründen

von FRANCO BERARDI

Im September 2001, als der Präsident der USA Kriege ohne Ende gegen einen undefinierbaren Feind in Aussicht stellte, schrieb jemand: Das Imperium führt Krieg gegen sich selbst. Die amerikanische Reaktion auf die Attacke des globalen Terrorismus wies pathologische Züge der Hysterie und selbstzerstörerischer Paranoia auf. Das Imperium erklärte den Krieg gegen das Chaos. Ein nicht gut zu machender Fehler, weil das Chaos nicht zu bekämpfen ist, da es sich doch aus allem nährt, was sich ihm entgegensetzt. Warum beging die amerikanische Präsidentschaft diesen Fehler? Weil der Kollaps der New Economy eine Rezession nach sich zu ziehen drohte und es nur mittels Krieg möglich war, ökonomische Energien zu mobilisieren? Oder weil die amerikanische Führung ein Interesse daran hatte, ihre Hände auf das irakische Öl zu legen? Hatte ein dementer Fanatismus von den mächtigsten politisch-militärischen Führungszentren der Erde Besitz ergriffen?

Fakt ist, dass sich der Terrorismus nach der Entfesselung des Präventivkrieges gegen den Irak enorm verstärkt hat, da er seine Rekrutierungsbasis ausdehnen konnte. Im Unterschied zum Vietnamkrieg wird dieser Krieg auch nicht in dem Augenblick enden, wenn die Marines aus dem Land abziehen, das sie verwüstet haben. Er wird in katastrophaler Weise weitergehen, in einem Territorium, das den Nahen Osten, Iran, Pakistan ebenso wie Europa einschließt.

Auch die Natur scheint gegen die zu revoltieren, die sie allzu lange vergewaltigt haben. Umweltkatastrophen und Energiekrise verknüpfen sich in einem Albtraumszenario. Wahrscheinlich ist es zu spät, um der kriminellen Unverantwortlichkeit des globalen Kapitalismus beizukommen: Das Wasser, das Feuer, die Luft werden sich nicht mit der Unterschrift unter ein zu spät gekommenes und unzureichendes Abkommen wie dem von Kioto beruhigen. Die in den letzten Jahrzehnten akkumulierte Zerstörung präsentiert jetzt erst die Rechnung. Doch die Alternativen müssen allesamt erst entwickelt werden. Die westliche Psyche fühlt sich (und findet sich vielleicht tatsächlich) am Rande eines Abgrunds.

Zwei Jahrzehnte der Deregulierung haben die gesellschaftlichen wie die gesetzlichen Schutzmechanismen weggefegt, die der Gewalttätigkeit des Kapitalismus Grenzen setzten. Heute zeigt sich diese Gewalttätigkeit als entfesselte und destruktive Macht, die die entschlossensten kriminellen Mächte prämiert. Die legalitäre Linke ruft nach der Wiederherstellung von Regeln, um die zügellose Macht des Kapitals zu beschneiden. Doch Regeln nützen gar nichts ohne die Macht sie durchzusetzen. Bisweilen lässt sich Demokratie nur durch materielle Macht durchsetzen, durch das Gewehr auf den Schultern der Arbeiter. Doch die solideste Macht besteht in verbreiteter kultureller Bewusstheit. Sobald Millionen von Menschen anfangen, sich anders zu verhalten, etwa Überstunden abzulehnen, die Zahlung von Wuchermieten zu verweigern oder auf öffentlichen Plätzen zu lieben, statt umweltverschmutzende Waren zu kaufen, zeigt sich die Legalität transformiert, auf den Kopf gestellt, neu geschrieben durch die Macht der Kultur und des Verhaltens.

Einige Jahrzehnte lang hat im 20. Jahrhundert eine Macht existiert, die in der Lage war, die Regeln sozialer Gerechtigkeit und des Gemeininteresses operativ werden zu lassen: die Macht der autonomen, organisierten Arbeiter, der Massenmobilisierung, die Macht des ausufernden Wunsches. Dies erlaubte die Schaffung eines dynamischen und fruchtbaren Gleichgewichts zwischen Gesellschaft und Kapital. Doch diese soziale Macht ist heute zerstört, vernichtet durch die Entterritorialisierung der Arbeit, durch die generalisierte Durchsetzung prekärer Arbeitsverhältnisse, die jede Form von Gemeinschaft unter Arbeitern zerstört, durch das Aufkommen einer Schrecken erregenden Macht: eines neuen Typs des Imperialismus, der auf dem Sklavenhaltertum und der Beseitigung der Menschenrechte gründet.

Während der Westen seinen Niedergang als treibende Kraft des globalen Kapitalismus erlebt, schickt sich der chinesische Nazi-Kommunismus an, auf ökonomischer Ebene zu einer Hegemonialmacht zu werden. Die immense Basis an Sklavenarbeit, über die China verfügt, bietet einen enormen Wettbewerbsvorteil, und die ökonomische Expansion Chinas führt schon jetzt zu einer generellen Absenkung der Löhne auf dem ganzen Planeten, zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für hunderte Millionen Menschen.

Vor ein paar Jahren dachte man, dass China ein neuer Markt für die westlichen Waren oder ein den westlichen Großunternehmen unterworfener Arbeitsmarkt sein könne. Heute wird klar: China tendiert dazu, sein Kapital im Ausland zu investieren, überall auf der Welt Arbeit zu kaufen, und gewiss kann es nicht der Protektionismus sein, der es dabei stoppt. Das chinesische Sklavenhaltertum wird nur durch die Revolte der chinesischen Arbeiter zu stoppen sein.

Aber tatsächlich wissen wir viel zu wenig über das gesellschaftliche, psychische, kulturelle Gleichgewicht, das sich in jenem Teil der Welt herausbildet. Es wäre nötig, die Geschichte der gesellschaftlichen Revolten in China neu zu lesen, von der Taipei-Revolte über den Boxeraufstand und den Arbeiteraufstand von 1927 bis hin zur Kulturrevolution, um zu verstehen, ob eine Erhebung der Arbeiter möglich ist, ob ein Zyklus der Autonomie und der Kämpfe das Verhältnis von Lohn und Kapital in jener Gegend der Welt verändern und Spielräume für die gesellschaftliche Autonomie auf der ganzen Welt öffnen kann.

Aber welche Macht kann die gesellschaftliche Autonomie heute noch haben, die paralysiert ist von dem gegenwärtigen Wandlungsprozess und der Gewalttätigkeit des planetarischen Konflikts? Meine These ist: die Macht des Niedergangs. Das Wort Niedergang suggeriert nur dann eine negative Idee der Melancholie und der Impotenz, wenn man das für positiv hält, was aggressiv und aufstrebend ist. Nur im Rahmen des jugendfixierten und Testosteron-gesteuerten westlichen, männlichen Chauvinismus kann das Wort Niedergang einen negativen Beigeschmack haben.

Mit dem Wort Niedergang bezeichnet man gewöhnlich die Reduzierung der Wettbewerbsfähigkeit, das Abnehmen der ökonomischen Wachstumsraten, die Schwächung der wirtschaftlichen und militärischen Aggressivität. Und diese Phänomene sind nicht zu trennen vom tendenziellen demografischen Rückgang, der die westlichen Länder betrifft, vorneweg Europa. Die Macht des Niedergangs findet sich in Europa konzentriert. Das Altern der Bevölkerung ist ein unumkehrbarer Trend, und das Nichtwachstum ist die einzige nicht destruktive ökonomische Perspektive. Nichtwachstum heißt keineswegs Reduzierung des gesellschaftlichen Reichtums. Im Gegenteil: Es kann Ausdehnung der freien und Vergnügungszeit bedeuten und ein kollektives Überdenken des Begriffs Reichtum selbst.

Eine kulturelle Welle des Sichentspannens und der friedlichen Auflehnung kann aus dem Niedergang einen Prozess der Autonomie der Gesellschaft vom Kapital machen. Wenn Berlusconi sagt, dass die Italiener stinkreich sind, hat er alles in allem Recht. Seit fünf Jahrhunderten haben die Italiener eine außerordentliche Welt an Reichtum und Schönheit akkumuliert. Wieso müssen wir das kapitalistische und konsumistische Regime erdulden, während wir das genießen könnten, was schon produziert worden ist, und unsere Energien der Pflege, dem Schaffen, der Forschung zuwenden?

Das kulturelle Handeln muss die Wahrnehmung des Niedergangs umkehren, um die europäische Gesellschaft von dem aggressiven Impuls zu befreien, der sie in der Vergangenheit zu einer imperialistischen Macht hat werden lassen. Der Niedergang ist unvermeidlich, er ist in den genetischen Code der europäischen Gesellschaft eingeschrieben, und im Laufe des Jahrhunderts wird er zur vorherrschenden Tendenz auf dem Planeten werden. Dies kann ein traumatischer und voller Zorn erlebter Prozess werden, dem man sich mit Gewalt und Krieg entgegenstellt. Aber es kann auch zu einem relaxten und euphorischen Prozess werden, der neue Perspektiven nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt eröffnet, sobald sie das Fieber des Fanatismus und des Kriegs hinter sich lässt. Es handelt sich darum, zum Thema Reichtum ein neues Bewusstsein heranreifen zu lassen: Er besteht nicht in der Zahl der Objekte, die wir anhäufen können, sondern in der verfügbaren Zeit, um das Existierende zu genießen, und in der Macht des Wissens, das die Reproduktion des Nötigen von Mühe und Ausbeutung unabhängig macht.

Europa mithin: Dies bleibt uns zu tun. Nach dem Referendum über die Verfassung ist der europäische Einigungsprozess in eine Phase tiefen Komas getreten. Die nationalen Politiker sprechen nicht über Europa, weil sie wissen, dass das bei den Wahlen Stimmen kosten könnte. Und die, die das Nein in Frankreich und den Niederlanden zum Sieg getragen haben, scheinen nicht daran interessiert, das Thema wieder aufzunehmen. Sie haben gesiegt, basta. Es kümmert sie kaum, wenn aus dem Sieg des Nein Fremdenfeindlichkeit und Abschottung folgen.

Die heutige Aufgabe ist es gerade, den Verfassungsprozess neu zu lancieren. Zugleich aber seine kulturellen Koordinaten zu verändern. Europa darf nicht beanspruchen, auf den eigenen Niedergang zu reagieren, indem es sich verspätet weitere Dosen an Liberalismus verpasst mit dem Ziel, seine Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Das kann nicht funktionieren, weil diese Auseinandersetzung schon verloren ist, außer man wäre bereit, Bedingungen der Sklaverei zu akzeptieren. Europa muss beginnen, die auf das kapitalistische Wachstum folgende Partie zu spielen: Sie muss die Gesellschaft der Pflege, des Genusses, der Freundschaft erproben. Eine Gesellschaft, die es nicht nötig hat, viel zu arbeiten, die es nicht nötig hat, viel zu konsumieren.

Sicher, das ist nicht die Idee von Europa, die die heutige, dem liberalen Kapitalismus gegenüber subalterne Schicht der Politiker hat. Aber mittlerweile ist diese Schicht der Politiker dabei, ans Ende ihres Zyklus zu gelangen, ebenso wie die neoliberale Ideologie selbst, und das katastrophale Chaos, in das wir gelangt sind, wird die Dinge innerhalb der nächsten zehn Jahre in erschütternder Weise verändern. Wir müssen jene Konzepte imaginieren, von denen ausgehend die europäische Gesellschaft neu beginnen kann, wir müssen einen Prozess der kollektiven, massenhaften Ausarbeitung der Verfassung lancieren. Einer Verfassung, die auf einer senilen Utopie gründet, nach der Verausgabung (nicht dem Scheitern) der jugendlichen Utopien, die Europa von der Romantik über den Futurismus bis hin zu den Bewegungen von 1968 bewegt haben. Die kommende ist die Utopie des glücklichen Niedergangs, der kreativen Faulheit, der Freundschaft und der Pflege.

Übersetzung aus dem Italienischen: Michael Braun