: Editorial
Interessiert die Frage, was links ist, heute noch? Knüpft man damit nicht an jene endlosen Selbstverständigungsdebatten an, mit denen sich die linke Szene seit 1968 das Leben sauer gemacht hat? Und sind links und rechts nicht verstaubte Begriffe, die spätestens nach 1990, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu Recht auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt worden sind?
Nein. Das Gerede vom Ende von links und rechts, das in den 90ern ziemlich modern war, ist selbst schon wieder von gestern. Es gibt nicht nur eine Renaissance linker Symbolik, sondern, viel wichtiger, schärfere soziale Widersprüche. Das Fundament des Modells Deutschland bröckelt. Es ist schon paradox genug, dass ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung die soziale Frage virulenter ist denn je. Und der Totalumbau des Sozialsystems, den Angela Merkel anvisiert, macht klar, wo rechts und links ist.
Die taz lenkt mit dieser Sonderausgabe – eine Woche vor der Bundestagswahl – den Blick auf das Heute. Das renegatische „Es war alles so furchtbar früher“ ist genauso wenig interessant wie der melancholietrübe Blick ins Gestern, das ja immer besser war. Die taz hat ein weites Spektrum von Autoren versammelt – von dem liberalen US-Philosophen Michael Walzer, der US-Interventionskriege gerechtfertigt hat, über Attac-Autoren bis zu radikalen Poplinken wie Klaus Walter. Auch thematisch finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein weites Spektrum: die Analyse, dass der Kampf für die Lohnarbeit von gestern ist (Seite 3); die Frage, ob Marx noch brauchbar ist (Seiten 6 und 8); das Problem, ob es eine linke Haltung zur Gentechnologie geben kann (Seite 15); die Frage, ob es überhaupt linkes Theater oder linke Kunst gibt (Seiten 10 und 11).
Es geht in dieser Sonderausgabe nur bedingt um Parteipolitik. Dennoch ist diese taz-Sonderausgabe ein Beitrag zur Bundestagswahl in einer Woche. Jenseits von Wahlkampfgetöse und Umfragenhysterie.
Es gibt ein Leitmotiv in den Texten, so verschieden sie politisch und thematisch sind. Es sind Versuche, in Widersprüchen zu denken. Es sind Versuche, das Einfache und Naheliegende ebenso zu vermeiden wie die manchmal stickige, linke Familiengemütlichkeit von gestern. Die Autoren schauen von der Realität auf das Etikett „links“, nicht umgekehrt. Sie widmen sich der Frage, was links ist und sein wird, auf die einzig brauchbare Art – illusionslos.STEFAN REINECKE