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Archiv-Artikel

Sterne, von Würmern genagt

Kunst „Bobe Mayses“ in der Städtischen Galerie: der beeindruckend gelingende Versuch einer jungen jüdischen Künstlerin, kreativ mit Geschichte umzugehen

Von Renners Haustür im Bremer Viertel bis nach Bergen-Belsen sind es 84,4 Kilometer. Diese Zahl verwandelt sie in Wolle

VON HENNING BLEYL

Wer die Städtische Galerie betritt, gerät ins Kreuzfeuer. Von vorn knallt einem ein „U“ entgegen, dann ein „X“, jetzt das „E“. Nun kommt von links ein gejubeltes „Liberman!“, rechts pumpt eine hoch engagierte Cheerleading-Truppe den Namen Boxcar Bertha auf. Dieses Inferno aus Heldinnen der Emanzipation und wild geschwenkten Pompons ist ein Arrangement von Elianna Renner: einer jungen Zürich-Bremer Künstlerin, der dieser Clash of Cultures sichtbaren Spaß bereitet. Zu Recht: US-amerikanische Cheerleader-Teams dazu zu animieren, die Namen von Rosa Luxemburg oder Käthe Kollwitz zu skandieren, ist eine befriedigende Leistung.

Wenn American Girls kommunistische Ikonen bejubeln, hat das besonderen Reiz – noch weiter führt dieser Ansatz jedoch bei Frauen wie Raquel Liberman, die sich in Buenos für die Zerschlagung von Zuhälterringen stark machte – und der Allgemeinheit komplett unbekannt blieb. Solche Frauen zu „cheeren“ hat fast etwas von postsexistischer Rehabilitierung.

41 Frauennamen später und 30 Stufen höher zeigt Renner das, was sie aus ihrer eigenen Familienbiografie schöpft. Und das ist reichhaltig. Beispielsweise eine Reise nach Budapest, in die Straße, in der Renners Großmutter lebte. Sie bittet ältere AnwohnerInnen, ihrer 1944 geflohenen Großmutter einen Gruß im DIN-A-4-Format zu schreiben. Die alten Leute tun das gern, Renner fotografiert sie samt Gruß und zeigt die Bilder ihrer jetzt in der Schweiz lebenden Großmutter. Und wo ist nun die Kunst? Beispielsweise auf dem Tonband, das die Reaktionen der alten Frau, die nie wieder in Budapest war, beim Anblick der Bilder festhält.

Über Konzeptionalität wird gern und oft gelästert – in dieser Vorgehensweise feiert sie durchschlagenden Erfolg. Schon der Titel der Arbeit könnte keine exaktere Punktlandung darstellen: „Ein Eintausendsechshundertfünfundachtzigstel“. Renners Großmutter war Teil des aus 1.685 Personen bestehenden Budapester Kasztner-Transports.

Renner, eine jüdische Künstlerin des Jahrgangs 1977, reagiert in fast schon spielerischer Weise auf die geschichtliche Last, auf die unfassbaren Erlebnisse und Leiden ihrer Familie und anderer Rassismus-Opfer. So wie Roberto Benigni 1997 mit seiner KZ-Tragikomödie „Das Leben ist schön“ das Lachen im Kontext des Holocausts „erlaubte“ – das Drehbuch basiert zum Teil auf den Erfahrungen von Benignis Vaters in Bergen-Belsen –, so fällt auch in Renners Kunst vor allem der kreative und trotz allem lebenslustige Zugriff auf die eigene Geschichte auf.

Renners Vater war – als Kind – ebenfalls in Bergen-Belsen. „Wenn ich das Bekannten gegenüber erwähne, fragen die oft: „Und, hat er überlebt?“, erzählt die Tochter. Solche Absurdität macht Renner fruchtbar, indem sie eine „Familiensaga“ entwickelt, halb Märchen, halb Realgeschichte, die man sich nun auf einer Tonspur in der Städtischen Galerie anhören kann. Möchte jemand wissen, wie ein produktiver Umgang mit Auschwitz heute aussehen kann? Die Städtische Galerie ist jeden Tag außer montags geöffnet.

Von Elianna Renners Haustür im Bremer Viertel bis nach Bergen-Belsen sind es 84,4 Kilometer. Diese Zahl verwandelt Renner in Wolle: In die aufgeribbelte Wolle vieler Pullis, die sie, im fokussierenden Licht einer Stirnlampe sitzend, langsam auseinander zieht. Was die Zuschauer parallel zu hören bekommen, ist nicht 84 Kilometer von Bergen-Belsen entfernt, sondern 40 Jahre: Erzählungen aus Renners Kindheit und Jugend in Zürich, in denen das Jüdischsein – seitens der Nachbarn – offenbar eine enorme Rolle spielte.

Renners „Astrolabium“ hingegen macht geschichtliche Prozesse optisch präsent: Zunächst glaubt man, Bilder eines überbordenden südlichen Sternenhimmels zu sehen – hat aber alte Zeitungen vor sich. Es handelt sich um Ausgaben der letzten gedruckten jiddischen Tageszeitungen, die spätestens in den 60er-Jahren ihr Erscheinen einstellten. Renner erbte dieses Archiv, als es bereits wurmzerfressen war. Das Material, über verschlungene Wege zwischen Kanada und Tel Aviv zu Renner gelangt, verwandelt die Künstlerin in ein Messgerät: So wie ein Astrolabium den Abstand zwischen Sternen und Horizont misst, lotet Renner die Lückenhaftigkeit in der intergenerationellen Geschichtsweitergabe aus.

„Bobe“ heißt Großmutter, „Mayse“ bedeutet im Jiddischen Geschichte oder Märchen. „Bobe Mayses“ ist Renners erste Einzelausstellung. 2009, nach einem HfK-Studium bei Karin Kneffel und François Guiton, bekam sie den Bremer Förderpreis für bildende Kunst. Er wird nicht der einzige bleiben.

Verlängert bis 17. November. Am Sonntag, 15 Uhr, führt die Kunsthistorikerin Carla Habel durch Elianna Renners „Bobe Mayses“