Der Fotograf von Auschwitz

NACHRUF Im Alter von 95 starb Wilhelm Brasse

Wilhelm Brasse war Berufsfotograf, als die Nazis ihn 1940 auf der Flucht nach Ungarn verhafteten. Da sich der Sohn eines Österreichers und einer Polin weder zu seiner „volksdeutschen Abstammung“ bekennen noch in die Wehrmacht eintreten wollte, kam er ins Gefängnis, später ins KZ Auschwitz. Sein Beruf rettete ihm dort das Leben. Denn der Leiter der Politischen Abteilung im KZ, der österreichische SS-Untersturmführer Maximilian Grabner, zwang Brasse dazu, die neu ankommenden Häftlinge für die Lagerkartei zu fotografieren. Später musste der Häftling mit der Nummer 3444 für den SS-Arzt Mengele auch die Opfer pseudomedizinischer Versuche fotografieren – vor allem jüdischen junge Frauen, aber auch Zwillinge, Hungernde, Kleinwüchsige und Kranke.

Nach dem Krieg fasste Brasse keine Kamera mehr an. Wann immer er durch ein Objektiv sah, sah er die Opfer von Auschwitz vor seinem inneren Auge. Kurz nach dem Krieg wollte Brasse vergessen, was er gesehen und dokumentiert hatte. In seinen letzten Lebensjahren erst begann er öffentlich zu erzählen, was ihn die ganzen Jahre nicht losgelassen hatte. „Als ‚Fotograf von Auschwitz‘ habe ich Juden bis zur Nummer 35.000 fotografiert, ab 1941 nur noch Polen – bis zur Nummer 125.000“, berichtete Brasse vor zwei Jahren. Am Dienstag starb Brasse im Alter von 95 Jahren in Zywiec, rund 50 Kilometer von Auschwitz entfernt.

Manchmal waren unter den zukünftigen Toten, die Brasse fotografierte, Bekannte. Was sollte er ihnen sagen? Er war einer von ihnen, aber doch in einer völlig anderen Lage. Manchmal konnte er ihnen ein Stück Brot zustecken. 1942 kamen Porträtaufnahmen von SS-Männern hinzu, auch der SS-Arzt Mengele ließ sich von ihm ablichten. Mengele war von der Aufnahme so angetan, dass er Brasse dazu zwang, seine Experimente im Lager zu dokumentieren.

Vor allem junge Jüdinnen musste Brasse ablichten, nackt. „Ich schämte mich. Mir war das sehr unangenehm.“ Dann schickte Mengele aus dem „Zigeunerlager“ Kranke, deren Kiefer vom Krebs zerfressen waren. Einmal musste der Fotograf zusehen, wie jungen Frauen bei lebendigem Leib die Gebärmuter langsam aus der Scheide gezogen wurde. Der SS-Arzt war mit den Bildern unzufrieden, da sie schwarz-weiß waren. Alles musste wiederholt werden – in Farbe.

Als die Rote Armee 1945 in Richtung Auschwitz vorrückte, sollte Brasse alle Bilder und Negative verbrennen. Doch das Material brannte schlecht. Kaum hatte sein Vorgesetzter die Baracke verlassen, holte Brasse die Dokumente aus dem Ofen. Über 35.000 Fotos konnten so gerettet werden. GABRIELE LESSER