Vom Betören und Besitzergreifen

Gysi und Lafontaine haben nach Jahren zueinander gefunden. Gesucht haben sich die beiden großen Populisten deswegen aber noch lange nicht

VON JENS KÖNIG

Lafontaine hat seine Rede schon vor einer Stunde beendet. Jetzt springt er doch noch einmal auf die Bühne. „Ich möchte mich verabschieden“, ruft er ins Publikum. „Aber vorher spiele ich noch den Ansager. Es ist mir eine große Freude, einen Freund anzukündigen. Jetzt spricht zu Ihnen – Gregor Gysi.“

Die Zuschauer auf dem Opernplatz in Frankfurt/Main jubeln. Gysi nimmt hinter dem Rednerpult Aufstellung. Als er mit seiner Rede beginnt, schleicht sich sein Freund unbemerkt über eine kleine Seitentreppe davon. Hinter der Bühne springt Lafontaine in ein großes schwarzes Auto. Bloß weg hier. Ab zum Flughafen und nach Hause.

Gysi füllt die große Bühne mühelos allein. Er wettert gegen den neoliberalen Zeitgeist. Er lobt die Wähler für ihr großes politisches Interesse. Er erklärt das Programm der Linkspartei und rechnet vor, dass man erst ab einem Jahreseinkommen von 80.000 Euro steuerlich schlechter dastünde als jetzt. Er rechnet es Gerhard Schröder als „historischen Verdienst“ an, beim Irakkrieg Nein gesagt zu haben. Gysi ist wie immer. Er verstellt sich nicht. Selbst bei sengender Hitze trägt er einen dunklen Anzug.

Gysi verführt das Volk nicht, er betört es. Er wirft seine große Illusionsmaschine an. Er erklärt detailliert, wie im Land alles besser werden könnte. Dass man nur dies logischer organisieren und jenes vernünftiger regeln müsste. Dass man sich im Bundestag nur zusammensetzen und miteinander reden brauchte. Er lässt alle davon träumen, in der Politik könnte es rational zugehen.

Gysi kann das deswegen, weil er von dem, was er sagt, überzeugt ist. Er ist kein Scharfmacher. Er ist ein moderner Demagoge. Er meint es gut.

Hätte Lafontaine ein bisschen Muße, könnte er vom Flugzeug aus beobachten, dass da unten auf der Bühne jemand steht, der so ganz anders ist als er selbst. Verbindlicher. Charmanter. Spielerischer. Den Menschen zugewandter.

Wenn Lafontaine redet, wie vorhin auf dem Opernplatz, legt er gern sein Jackett ab und tritt in einem kurzärmeligen Hemd in den Ring. Bei ihm wird nicht viel herumgetänzelt, er rammt beide Beine fest in den Boden, und los geht’s. Schlag auf Schlag, linker Haken, rechter Haken, Pardon wird nicht gegeben. Agenda 2010, Hartz IV, diese ganze Löhne-runter-Politik der „Allparteienkoalition“ im Bundestag – alles „Schwachsinn“, ruft Lafontaine, alles „neoliberale Irrlehre“. Die Zustände in Deutschland? „Ein Irrenhaus!“ Die selbst ernannten Experten der Wirtschaft? „Haben keinen Verstand!“ Die anderen Parteien? „Sie täuschen euch!“

Lafontaine erklärt nicht, er stellt fest, er klagt an, er schreit über die Köpfe der Menschen hinweg. Er hämmert seine Sätze in die Luft, als sollten sie dort für immer und ewig hängen bleiben. Dabei ballt er seine Fäuste, der Oberkörper fliegt vor und zurück, bis sein Hemd ganz durchgeschwitzt an ihm herunterhängt. Er zieht das Publikum nicht in seinen Bann, er ergreift von ihm Besitz, unerbittlich, aggressiv, körperlich.

Er kann unmöglich an das glauben, was er sagt, sonst hätte er sich vor ein paar Jahren selbst als großen Neoliberalen beschimpfen müssen. Lafontaine ist ein Scharfmacher. Ein Demagoge vom alten Schlag. Bei ihm weiß man nie genau, was er gerade im Schilde führt.

Gysi und Lafontaine, Gregor und Oskar, Sozialist und Sozialdemokrat, Ostberliner und Saarländer, Anwalt und Physiker – sie bilden das neue Traumpaar der Linken, das Gespenst, das angeblich umgeht in Deutschland, gefürchtet von ihren Gegnern, bejubelt von ihren Anhängern. Sie würden so gut zueinander passen, sagen alle. Beide begabte Schauspieler. Beide große Vereinfacher vor dem Herrn. Beide larmoyante Drückeberger, wenn es wirklich ernst wird. Und beide nur noch Ex – Exparteivorsitzende, Exwirtschaftssenator, Exfinanzminister. Da hätten sich genau die zwei Richtigen gesucht und gefunden, höhnen die Medien.

In Wahrheit gibt es nur eines, das Gysi und Lafontaine verbindet: dass sie einmal in ihrem Leben aus dem politischen Spiel ausgestiegen sind und jetzt auf dem selben Ticket in das Spiel zurückwollen. Dafür haben sie sich gefunden – gesucht haben sie sich deswegen noch lange nicht. Sie sind jahrelang nur umeinander hergeschlichen. Nach dem ersten Treffen der beiden, 1995, das so Aufsehen erregend war, dass Gysi die Saarländische Landesvertretung in Bonn noch durch den Hinterausgang verlassen musste, haben sie sich über die Jahre immer mal wieder gesehen und miteinander gesprochen. Lafontaine hat Gysis zweites Buch vorgestellt. Gysi hat Lafontaine in seine eigene Talkshow im Deutschen Theater in Berlin eingeladen. Bei solchen Gelegenheiten plauderten die beiden großen Unterbeschäftigten der deutschen Politik auch über das Projekt einer Linkspartei. Mehr als das öffentliche Kokettieren mit dieser Idee kam dabei jedoch nicht heraus. Erst Gerhard Schröders verzweifelter Neuwahl-Coup im Mai 2005 kettete Gysi und Lafontaine aneinander.

Jeder, der sehen will, kann erkennen, wie wenig die beiden eigentlich zueinander passen und wie sehr sie sich darüber möglicherweise noch wundern werden, wenn sie die Fraktion der Linkspartei im Bundestag zusammen anführen. Wenn Lafontaine Gysi als seinen „Freund“ bezeichnet, erinnert man sich natürlich sofort daran, wie er 1998 beteuerte, dass zwischen ihn und Schröder kein Blatt Papier passe; den gleichen Satz hatte Lafontaine übrigens schon 1987 über sich und Johannes Rau gesagt und 1994 über sich und Rudolf Scharping. Gysi ist da womöglich ehrlicher. „Ich bin gern mit ihm zusammen“, sagt er über sein Verhältnis zu Lafontaine. „Ich werde immer gefragt, ob wir befreundet sind. Dazu sehen wir uns zu selten. Aber das kann sich entwickeln.“

Im Wahlkampf ist keine Gelegenheit dazu. Die Linkspartei verzichtet darauf, ihr Traumpaar gemeinsam übers Land zu schicken. Gregor und Oskar zusammen auf einer Bühne – da würde man, so sagen sie in der PDS-Spitze ganz ungeniert, Perlen vor die Säue werfen. Einer allein reicht allemal, um einen ganzen Marktplatz zu begeistern. Also gibt’s im gesamten Wahlkampf nur drei, vier gemeinsame Auftritte von Gysi und Lafontaine. Wer will, kann darin natürlich auch ein Zeichen dafür sehen, wie schwierig es für zwei Medienstars ist, sich das große Scheinwerferlicht teilen zu müssen. Es ist ja kein Zufall, dass Lafontaine in Frankfurt/Main von der Bühne schleicht, als Gysi anfängt zu sprechen. Ein paar Tage später in Potsdam wiederholt sich das Schauspiel.

Möglicherweise lauert dahinter aber noch eine viel größere, brutalere Wahrheit als nur die vom Teilen der öffentlichen Aufmerksamkeit: nämlich die, dass es in der Mediengesellschaft von heute in einer Partei nur einen Anführer geben kann. Weil eine Masse keines zweiten Anführers bedarf.

Wenn es stimmt, dass der, der den Zweikampf der Anführer verlieren wird, die kommende Niederlage als Erster spürt, dann hat Gysi sein Schicksal bereits vor zwei Wochen in den Blick nehmen dürfen. Da überwältigte Lafontaine den PDS-Parteitag in beeindruckender Manier. Er hielt eine kluge, gerissene Rede, in der er die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung beschwor und den früheren DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow für dessen vorsichtigen Widerstand gegen das SED-Politbüro zu einem zweiten Gorbatschow stilisierte. Lafontaine erbeutete sich im Vorbeigehen eine historische Aura, die er als Nachgeborener, anders als ein Wehner oder Brandt, nie besaß. Damit nahm er die Masse im Sturm, die bislang ihrem Gregor Superstar zugejubelt hatte. Gegen diese seltene Begabung aus politischem Urinstinkt und brutalem Kalkül kam Gysi an diesem Tag nicht an. Mit seiner unterhaltsamen Rede wirkte er in diesem Moment wie ein Pausenclown.

Plötzlich dachten nicht wenige in der Partei daran, dass das Wahlplakat, auf dem Gysi Lafontaine so schelmisch, ja unterwürfig anlächelt, doch eine versteckte Wahrheit enthalten könnte. „Macht euch keine Sorgen“, rief Gysi ihnen mit einem Lachen zu, „ein bisschen chefig bleibe ich schon.“

Vielleicht hat Gysi in diesem Moment lediglich versucht, sich selbst zu beruhigen. Wie ja überhaupt seine ganzen Verteidigungsreden in Bezug auf Lafontaine so klingen, als befürchte da einer, sein neuer „Freund“ könnte doch ganz der Alte sein, der, den die Schröders, Scharpings und Engholms auf dem Weg der Enkel nach oben in all seinen Facetten kennen gelernt haben: ein kluger, ehrgeiziger, überaus robuster und doch zerrissener politischer Charakter, der sich mit seiner Neigung zum Extremen, seinem Ganz-oder-gar-nicht, anderen und sich selbst oft genug im Wege stand.

Gysi hat sich mit Lafontaines Biografie beschäftigt. Er hat gelesen, wie der Junge, der ohne Vater aufwuchs, im bischöflichen Konvikt in Prüm den strengen Drill überstand, wie dieser sich nicht nur intellektuell, sondern auch körperlich behauptete, wie Lafontaine bewusst die Konfrontation suchte und nach Opfern Ausschau hält, die er fertig machen konnte. „Ich hätte es in diesem katholischen Internat keine drei Wochen ausgehalten“, sagt Gysi. Das glaubt man ihm sofort. Der junge Gregor, klein, rund und sehr weich, hat sich nie geprügelt.

Trotzdem verstehen sich die beiden. Sie telefonieren täglich miteinander. „Gysi ist jemand, mit dem man unglaublich gut reden kann“, sagt Lafontaine. Das klingt beinahe so, als gäbe Gysi ihm, dem verschlossenen Charakter, die Wärme, die er braucht, um das Feindbild, das von ihm existiert, nicht immer wieder zu bedienen. Dennoch kann niemand in der PDS genau sagen, was Lafontaine eigentlich treibt. Rache an Schröder? Trauerarbeit, weil er sich seinen Rückzug 1999 selbst nicht verzeiht? Die Vereinigung von Linken und SPD – zu seinen Bedingungen? Gysi dagegen gibt niemandem ein Rätsel auf. Er ist ein politischer Romantiker. Er träumt ungeniert davon, eine Partei links neben der SPD etablieren zu können.

Ist ein Machtpolitiker wie Lafontaine für Träume zu haben? „Wir haben uns noch nie beschissen“, sagt Gysi.

Das muss nicht ewig so bleiben.