: Die Bewegung der Erinnerung
BÜHNENLEBEN Lutz Förster tanzt „Lutz Förster“, der Tanzkongress Hamburg fragt nach dem Umgang mit Archiven und Repertoire
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Die Schallplattenaufnahme rauscht, wie es sich gehört für einen fast 90 Jahre alten Song. Sophie Tucker, amerikanische Entertainerin der Zwanzigerjahre, singt „Some day he’ll come along, The man I love, and he’ll be big and strong“. Wort für Wort begleitet Lutz Förster, distinguiert im dunklen Nadelstreifenanzug, die Zeilen mit seinen Händen. Was aus der Gebärdensprache der Gehörgeschädigten stammt, wird zu einem eleganten tänzerischen Solo, in dem die Frauenstimme und der Körper des Mannes eine androgyne Verbindung eingehen.
Dieses Lied von Sophie Tucker, das erzählte Förster zuvor auf der Bühne, verbindet ihn mit einem Freund, einem Tucker-Fan, der ihm die amerikanische Kultur nahebrachte. Als sein Freund starb, Anfang der 80er-Jahre, brachte Förster die für ihn mit so vielen Emotionen besetzten und doch sehr schlanken, fast zurückhaltenden Bewegungen in ein Stück von Pina Bausch ein. Und wenn er jene Sequenz in dem Stück „Lutz Förster“, das der französische Choreograf Jérôme Bel für ihn entwickelt hat, jetzt, nach dem Tod der Choreografin, wieder aufführt, flicht sich eine weitere Linie der Erinnerung zwischen die Songzeilen.
Als er 13 Jahre alt war, lernte Lutz Förster, 1956 geboren in Solingen, Tango. Das ist der erste Schritt, den er in den sechzig Minuten seiner tänzerischen Biografie leichtfüßig skizziert. In klaren und knappen englischen Sätzen erzählt er von seiner Zeit bei Pina Bausch, die ihn 1975 als jungen Studenten entdeckte, von dem Engagement als Jago, seiner Lieblingsrolle seit Kindertagen, in der New Yorker Limón-Compagnie, und von einem äußerst skurrilen Auftrag von Bob Wilson. Der bat ihn, in einem schwarzen Anzug hinten die Bühne zu betreten, und vorne in einem weißem abzutreten, alles andere war ihm überlassen. Sachlich, mit angelsächsischem Understatement, führt der langbeinige Tänzer vor, wie er diese Aufgabe löste, welche Schritte er sich für den Kleiderwechsel ausdachte, was für ein Kostüm dafür genäht wurde.
Was anrührt an dieser biografischen Form, ist die besondere Mischung aus Bescheidenheit und prominenter Tanzhistorie, aus Rückblick und Präsenz. Persönlich ist das Solo gerade in der strengen Stilisierung, die vieles unausgesprochen lässt. Die Exaktheit der Bewegung hält den Deckel auf möglichem Pathos.
Förster, der selbst mit 21 Jahren an der Folkwang Schule Essen zu studieren begann, lehrt heute dort als Professor zeitgenössischen Tanz. Er ist zudem Mitglied in einem neu gegründeten Stiftungsrat, der das Tanztheater Wuppertal im weiteren Umgang mit den Stücken von Pina Bausch berät. Die Arbeit an der Weitergabe von Tanzformen ist ihm also bestens vertraut. Doch daraus auch ein Stück zu machen, darauf brachte ihn erst Jérôme Bel.
Der Flüchtigkeit trotzen
Für Bel ist „Lutz Förster“, das im März 2009, noch vor dem Tod von Pina Bausch, herauskam, die dritte Porträtarbeit, die anderen galten einer Solistin der Pariser Oper und dem thailändischen Choreografen Pichet Klunchun. Bel reagiert damit auf den gewachsenen Bedarf der zeitgenössischen Tanzszene, sich der Flüchtigkeit der eigenen Kunst entgegenzustellen. Tanzrekonstruktionen, Befragungen von Rezeptionsgeschichte und der Legenden, Lebensläufe: das sind die dokumentarischen Formate, mit denen der Tanz an seinem kulturellen Gedächtnis arbeitet.
Auf Kampnagel Hamburg läuft „Lutz Förster“ nun im Rahmen eines großen Tanzkongresses, der vom 5. bis 8. November stattfindet. 200 internationale Referenten sind eingeladen, 80 Veranstaltungen angesetzt. „Tanzgeschichten“ und „Lebensläufe“ bilden dabei zwei Schwerpunkte des Programms, und das hat – so erläutert Sabine Gehm, die den Kongress zusammen mit Katharina von Wilcke leitet – einen politischen Grund: Denn in der fehlenden Sichtbarkeit der Tanzgeschichte wird ein Motiv für das schwächelnde Interesse der Kulturpolitik an der Tanzförderung vermutet.
Um sich in dieser Hinsicht besser aufzustellen, diskutiert der Tanzkongress die Möglichkeiten der Tanzarchive, die es in Leipzig, Köln, Bremen und Berlin gibt, ihr Material besser als Aktiva zu nutzen. Fabian Barba rekonstruiert einen Tanzabend von Mary Wigman, Studierende des Masterstudiengangs Tanzwissenschaften der Freien Universität Berlin berichten von ihren Archivgängen auf den Spuren der Avantgarde-Künstlerinnen, die Compagnie von Sasha Waltz & Guests stellt ihr Konzept der Dokumentation und Reproduktion vor.
Das Besondere der Weitergabe von Bewegung ist ja, dass sie an Personen und damit an lebendige Träger gebunden ist. Gerade davon lebt die Zeitreise „Lutz Förster“, die in prägnanten Ausschnitten die Arbeitsweise sehr unterschiedlicher Künstler nebeneinanderstellt.
■ „Lutz Förster“, 6. November, 21.30 Uhr, + 7. November, 20 Uhr, K2 Kampnagel