„Der Iran glorifiziert den Tod“

POLITIK Die Vereinten Nationen schützen Massenmörder, findet der US-Politologe Daniel Jonah Goldhagen. Um Völkermord zu stoppen, fordert er schnelleres militärisches Eingreifen von den westlichen Demokratien

Der Mensch: Daniel Jonah Goldhagen wurde 1959 in Boston geboren. Nach einem Geschichts- und Politikstudium lehrte er als Professor für Geschichte an der Harvard University in Cambridge. Dort legte er als Ergebnis seiner Forschungen 1996 das Buch „Hitler’s Willing Executioners“ vor. Sein Vater, Erich Goldhagen, ein Überlebender des jüdischen Ghettos im damals rumänischen Czernowitz, hat selbst 25 Jahre lang als Professor an der Universität Harvard Seminare über den Holocaust gehalten.

Die Arbeit: Sein Erstlingswerk erschien noch im selben Jahr unter dem Titel „Hitlers willige Vollstrecker“ in deutscher Übersetzung und provozierte eine öffentliche Debatte über die Ursachen des Holocaust. Goldhagen folgerte, dass der Antisemitismus des „normalen“ Deutschen die Ausführung der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten erst ermöglicht habe. 2002 klagte er in seinem Buch „Die katholische Kirche und der Holocaust“ die Kirche an, den Massenmord der Nazis an den Juden ideologisch und praktisch unterstützt zu haben.

Das neue Buch: Daniel Jonah Goldhagen: „Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“. Siedler Verlag, 688 Seiten, 29,95 Euro

INTERVIEW CIGDEM AKYOL UND KLAUS HILLENBRAND

taz: Herr Goldhagen, Sie haben bisher vor allem ein Land thematisiert – Deutschland. In ihrem neuen Buch „Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“ kritisieren Sie gleich die Weltgemeinschaft. Brauchen Sie große Gegner?

Daniel Jonah Goldhagen: Als Wissenschaftler bin ich an Politik interessiert und daran, Wege herauszufinden, die politischen Voraussetzungen zu verbessern. Das gefällt vielen nicht: den Mördern und auch denen nicht, die potenzielle Mörder werden könnten.

Sie schreiben, dass Völkerrecht habe vollständig versagt. Es gibt aber das Tribunal in Den Haag, gerade hat das Verfahren gegen Karadžić begonnen. Es gibt den Internationalen Gerichtshof in Rom und andere Institutionen. Sehen Sie keinerlei Verbesserung in Bezug auf internationales Recht, besonders in den letzten zehn Jahren?

Natürlich, und wie ich in meinem Buch schreibe, ist der Internationale Gerichtshof in Den Haag ein großer Fortschritt. Wir sollten ihn unterstützen und fördern. Aber das ist nur ein kleiner Teil von dem, was getan werden muss, um den Genozid zu stoppen. Es gibt auf internationaler Ebene keine Polizei, keine Gerichte auf unterer Ebene. Der Internationale Gerichtshof ist zu einseitig und zu langsam in seiner Verfolgung. Er tritt mit jahrelanger Verzögerung in Aktion.

Was sind Ihre Forderungen, damit das effektiver funktioniert?

Wir brauchen ein internationales Recht, um andere Verbrechen mit internationalen Ausmaßen zu bekämpfen. Um Staaten die Möglichkeit einer Intervention zu geben, Genozid von Anfang an zu stoppen. Das Grundproblem im Internationalen Recht und auch mit der UN ist, dass Souveränität als Staatssouveränität angesehen wird. Dass ein Staat das Recht auf Nichteinmischung besitzt, so lange ihn andere Staaten nicht attackieren. Dieses Prinzip ist beinahe sakrosankt und gibt Staatsführern, die für einen Völkermord innerhalb ihres Landes verantwortlich sind, nahezu eine vollständige Immunität. Sie können damit rechnen, straflos in ihrem Tun fortzufahren.

Sie verlangen also die Abschaffung der Souveränität?

Nein, aber diese Souveränität ist offensichtlich ein Freibrief für Massenmörder. Was können wir also tun, um eine Souveränität zu erlangen, die nicht als ein Eigentum von Staaten, sondern als ein Eigentum von Völkern fungiert? Der Souverän sollte das Volk sein, und wenn es von der eigenen Regierung verfolgt wird, dann sollte Souveränität nicht diese Regierungen schützen, sondern tatsächlich das Volk.

Das hört sich so einfach an – wie lässt sich das konkret umsetzen?

Es gibt vieles, was wir tun können, um die Welt zu verbessern. Das heißt nicht, dass es einfach ist. Was ich in diesem Buch gemacht habe, ist, einen Weg zu zeigen, wie es meiner Meinung nach getan werden müsste und was einer Menge Leuten das Leben retten würde. Ich habe nicht die Illusion, dass Ihre Kanzlerin oder der Präsident der Vereinigten Staaten mein Buch lesen werden und sagen: Ja, toll, wir wissen jetzt, was zu tun ist, wir werden unsere Politik ändern. Aber die erste Frage ist immer: Was wäre moralisch zu tun? Was effektiv? Was sollte getan werden? Und wenn wir das wissen, können wir mit der Arbeit beginnen. Ich habe versucht, eine Roadmap für ein Vorgehen gegen Völkermord aufzuzeigen. Es wird natürlich sehr schwer, etwas zu verändern, weil es viele Widerstände geben wird. Dennoch sollten wir fragen: Wo in Deutschland oder in den USA wird eine ernsthafte Diskussion darüber geführt, was man generell gegen Massenmorde tun könnte?

Und der Internationale Gerichtshof?

Der ist ein Aushängeschild, ein Feigenblatt. Die Politik kann behaupten: Seht her, wir tun, was wir können. Aber eigentlich benötigen wir ganz andere Mittel.

Sie schreiben, man müsse schärfer gegen Diktaturen vorgehen, die Völkermorde propagieren. Nehmen wir einmal die palästinensische Hamas, die sagt, sie möchte Israel zerstören. Zu welchem Zeitpunkt wollen Sie gegen solche Regierungen vorgehen? Schon wenn diese einen Völkermord propagieren oder erst, wenn sie damit bereits begonnen haben?

Solange diese Leute nur reden, aber nicht handeln, kann man nur mit den Mitteln der Diplomatie reagieren. Wir müssen klarmachen, dass wir bereit sind zu reagieren, wenn aus dem Gerede wirkliche Taten folgen. Wenn die Zeichen für einen bevorstehenden Völkermord so deutlich sind wie etwa in Ruanda, sind Interventionen gerechtfertigt. Dann muss eine internationale Streitmacht eingreifen, um einen Völkermord zu verhindern. Wir müssen zuerst einmal nach der Alternative fragen. Die ist der Status quo, wo überhaupt nichts geschieht, wenn Menschen abgeschlachtet werden. Es müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden und Dinge geschehen, die niemand gerne möchte. Manche behaupten, meine Vorschläge seien radikal. Aber radikal ist in Wahrheit der Status quo.

Also müssen erst Menschen umgebracht worden sein, bevor eine Intervention beginnen kann?

Ja, richtig, jedenfalls, was militärische Interventionen angeht.

Wie sollte man sich dem Iran gegenüber verhalten?

Es gibt eine Ausnahme von der Regel, und die betrifft Nuklearwaffen. Denn ihr Potential für einen Massenmord ist einfach zu groß. Der Iran spricht die Sprache des Völkermords. Es ist ein Regime, das einer Ideologie verpflichtet ist, die in vielen Bereichen der Nazi-Ideologie ähnelt. Die Ideologie behauptet, die Tötung vieler Menschen sei angemessen und notwendig. Genauso heißt es, dass Sterben für diese Ideologie angemessen und notwendig sei. Und schließlich glorifiziert dieses Regime auch noch den Tod.

Der Internationale Gerichtshof ist ein Feigenblatt. Die Politik kann behaupten: Seht her, wir tun etwas

Für den Fall, dass der Iran über Nuklearwaffen verfügt, hat das Land zumindest theoretisch deutlich gemacht, was seine Intentionen sind. Es ist einfach zu gefährlich, diesem Staat den Besitz von Atomwaffen zu erlauben. Für die iranische Führung scheint es eine realistische Möglichkeit, dass der Abwurf einer Atombombe auf Tel Aviv ein sinnvolles Vorgehen ist. Ich bin der Überzeugung, dass die westlichen Länder alles in ihrer Macht Stehende tun sollten, um zu verhindern, dass der Iran Nuklearwaffen besitzt.

Sie schlagen vor, dass die Demokratien eine eigene internationale Körperschaft gründen sollten, um Völkermorde zu bekämpfen. Aber auch Demokratien begehen furchtbare Fehler. Und der Kampf gegen Völkermorde fällt unter moralische Kategorien. Demokratien handeln aber nicht unbedingt moralisch, sondern eben auch entsprechend ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen – siehe Bushs Irakkrieg.

Demokratien waren früher einmal imperialistische Mächte, die selbst – etwa in ihren Kolonien – Völkermorde angerichtet haben. Heute gibt es so etwas nicht mehr. Wir benötigen eine Kraft, die Völkermorde verhindert. Die westlichen Demokratien sind dafür am besten geeignet. Was Ihre Bedenken betrifft: Wir müssen uns eingestehen, dass alles besser ist als die jetzige Situation, wo gar nichts unternommen wird. Wenn wir nur einen einzigen Völkermord verhindern, retten wir das Leben vieler. Ein neues System muss nicht perfekt sein, es muss nicht immer funktionieren – es muss nur besser sein als das derzeitige System. Wenn die Demokratien ein internationales Überwachungssystem begründen, das sich bereit erklärt, aktiv gegen Völkermord vorzugehen, wäre das ein enormer Fortschritt. Wäre das perfekt? Gewiss nicht. Aber es wäre wesentlich besser als heute.

Sie vergleichen verschiedene Völkermorde miteinander, darunter auch den Holocaust. Zweifeln Sie die Einmaligkeit des Holocaust an?

Alle Völkermorde können miteinander verglichen werden, um Unterschiede und ihre Ähnlichkeiten zu analysieren. Natürlich besitzt der Mord an den europäischen Juden singuläre Aspekte, der ihn fundamental von anderen Völkermorden unterscheidet. Was den Holocaust einzigartig macht, ist, dass er der einzige Versuch eines Staates und eines Volks war, auf einem ganzen Kontinent – und zu Ende gedacht auf der ganzen Welt – jede einzelne Frau, jeden einzeln Mann und jedes einzelne Kind einer Bevölkerungsgruppe zu vernichten. Und der zweite Punkt, der den Holocaust einmalig macht, ist, dass dieser nicht nur von einem Staat und einem Volk durchgeführt wurde, sondern von vielen Staaten und Völkern in einer internationalen Völkermord-Koalition. In Deutschland gibt es das Problem, dass einige den Holocaust mit anderen Dingen aus ganz bestimmten politischen Absichten vergleichen, etwa, um zu behaupten, der Holocaust sei weniger schlimm als behauptet.

Ihnen wird vorgeworfen, Dinge sehr stark zu vereinfachen und unwissenschaftlich zu arbeiten, um einen größeren Leserkreis zu erreichen. Steckt dahinter eine Strategie?

Leute, die nicht wollen, dass die Wahrheit gesagt wird, behaupten alle möglichen Dinge. In meinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ analysierte ich verschiedene Aspekte viel gründlicher, als es diese Kritiker jemals getan haben, dass sie sich noch nicht einmal die grundlegendsten Fragen gestellt hatten. Es gab eine Menge Krach und Debatten. Inzwischen ist die wesentliche These dieses Buchs weitgehend akzeptiert worden, nämlich, dass bei der Untersuchung der Gründe für den Holocaust der Fokus weg von Abstraktionen wie dem Terrorstaat hin zu den eigentlichen Tätern und ihren Überzeugungen weisen sollte.